Richte deinen Blick nach vorne und lass endlich dein inneres Kind in Ruhe

Ein Paradigmenwechsel in der Psychotherapie?
Ein Paradigmenwechsel in der Psychotherapie?

Aktuelles

In der Zeitschrift  ‚STERN‘ vom 15.2.2024, S. 56 – 59 beklagt die Psychologin, Psychotherapeutin, Supervisorin und Buchautorin Gitta Jacob die Tatsache, dass im gegenwärtigen Mainstream der Psychotherapie der Fokus schwerpunktmäßig darauf liege, die eigene Vergangenheit zu betrachten. Stattdessen sollte man mehr nach vorn blicken.

Im Mittelpunkt stehe das Konstrukt des ‚Inneren Kindes‘, als Modell aller ‚inneren Verletzlichkeiten, Ängstlichkeit, Unsicherheit, Scham (und) Unzulänglichkeit‘. Dies seien, Jacob, ‚Erfahrungen, die wirklich alle Menschen erleben‘.

Für viele seien die eigenen Gefühle und Befindlichkeiten das Allerwichtigste. Der Mensch ist sein eigener Mittelpunkt und wird in seiner Ausschließlichkeit zum goldenen Kalb seiner selbst.

So weit, so gut

Besseres Verständnis seiner selbst und für sich selbst ist per se nichts Negatives, wenn es als Ausgangspunkt einer kritischen Analyse dient, aus deren Schlussfolgerungen aktives Handeln folgt.

Es bleibt jedoch negativ, wenn es nur dazu dient, als eine rechtfertigende Erklärung und Begründung genommen zu werden, um die eigene Opferrolle zu überhöhen und den Zugang zur eigenen Komfortzone geschlossen zu halten.

Aber hier entsteht ein sich selbst beschleunigender Teufelskreis, der self-dynamic vicious circle, der die Probleme und deren Folgen zementiert, statt sie zu überwinden und aufzulösen.

Finale Konsequenz wäre die Selbstzerstörung statt des Wiedergewinnens der Selbstkontrolle.

Ziel einer Psychotherapie

Ziel einer Psychotherapie muss auf alle Fälle sein, den Klienten in die Lage zu versetzen, in eigenem Namen und in eigener Verantwortung die Gestaltung seines Alltags im Detail und seines Lebens im Allgemeinen übernehmen zu können und zu wollen.

Die Selbstermächtigung als Handlungsgrundlage und der Entscheidungsfähigkeit des autonomen Individuums, als tätiges Subjekt ist die Perspektive.

Subjekt statt Objekt, Autonomie statt Heteronomie, Selbstbestimmung statt Fremdbestimmung.

Bild des möglichen Teufelskreises

Der Therapeut nimmt selbstverständlich den Leidensdruck und die Probleme des Klienten an und wertschätzt ihn, repräsentiert durch die rechte Seite der bunten Grafik.

Bild des möglichen Teufelskreises
Bild des möglichen Teufelskreises

Er lenkt den Schwerpunkt des Gesprächs aber immer wieder auf die linke Seite der Grafik, die Seite der kraftvollen, dynamischen Transformation von möglicher Wut und möglichem Zorn zu konstruktiver Aktions- und Handlungsbereitschaft.

Kraft und Dynamik in den Grenzen der Selbstkontrolle und Selbstbestimmung.

Der Therapeut fragt also nicht so sehr nach den Ursachen eines Problems. Viel wichtiger ist die sich anschließende Frage nach der genauen Definition des Problems, das den Leidensdruck erzeugt.

Was ist das Problem? Und es folgt die noch wichtigere Frage: Wie könnten Lösungen aussehen?

  • Glaubenssatz 1: problem talk creates problems
  • Glaubenssatz 2: solution talk creates solutions,

will sagen: je mehr man über das oder die Probleme spricht, umso mehr Probleme tauchen auf. Aber je mehr man über Problemlösungen spricht, umso mehr Lösungsmöglichkeiten tauchen auf.

Das Eine geht nicht ohne das Andere

So klar und eindeutig, wie es in diesem Stressmodell dargestellt wird, ist die Praxis in der therapeutischen Sitzung natürlich nicht.

Das Eine geht nicht ohne das Andere
Das Eine geht nicht ohne das Andere

Der Klient trägt zu Beginn der Therapie schwerer am Leidensdruck und dessen Hintergrund. Vielleicht ist auch gar nicht bereit, sich der anderen Seite zu öffnen. Es liegt am Geschick des Therapeuten, den richtigen Zeitpunkt zu finden, den Klienten eine neue Sicht der Dinge erarbeiten zu lassen.

Humor sollte dabei nicht zu kurz kommen, wie folgendes Beispiel zeigt:
Er:  Ja. Endlich. Es hat so lange gedauert.
Sie:  Willst du mich verlassen?
Er: Nein. Wie kannst du überhaupt an so was denken?
Sie: Liebst du mich?
Er: Natürlich. Immer wieder.
Sie: Hast du mich jemals betrogen?
Er: NEIN! Warum fragst du überhaupt?
Sie: Wirst du mich küssen?
Er: Bei jeder Gelegenheit, die ich bekomme.
Sie: Wirst du mich schlagen?
Er: Bist du verrückt? Ich bin nicht so einer.
Sie: Kann ich dir vertrauen?
Er: Ja.
Sie: Liebling.

Aus einer Liebeserklärung wird eine Trennungserklärung.

Es hängt ganz davon ab, ob man den Dialog von oben nach unten oder von unten nach oben liest. Natürlich werden alle Menschen den Dialog zunächst von oben nach unten lesen, weil man es so gelernt hat und eben zur Gewohnheit geworden ist. Es wird nicht mehr in Frage gestellt.

Ebenso können ursprünglich hilfreiche Verhaltens- und Einstellungsweisen nützlich und hilfreich gewesen sein, sodass sie ‚in Fleisch und Blut übergegangen sind‘.

 Eine plötzliche Umstellung verunsichert zunächst, man sieht aber plötzlich neue Seiten, ähnlich wie eine Landschaft, in der man zuhause ist und in der man sich auf bekannten und gewohnten Pfaden bewegt.  Sieht man diese Landschaft plötzlich aus der Vogelperspektive, erscheint sie neu und fremd.

Distanzierung bringt neue Sicht- und Erfahrungsmöglichkeiten und eröffnet neue Perspektiven. Es kann so sein, aber auch ganz anders.

Quelle: Walter Lenz: Einführung in die lösungsorientierte Kurzzeittherapie. Grin-Verlag 2016.