„Wenn Sie Ihre Anfälligkeit für Unglück und Leid maximieren wollen, empfehle ich Ihnen: Gehen Sie möglichst behütet durchs Leben. Versuchen Sie, jeden noch so kleinen Stressfaktor frühzeitig auszuschalten, jeden möglichen Stolperstein großräumig zu umgehen. Baden Sie stattdessen im Komfort. Schauen Sie zu, dass Sie möglichst lange in einem metaphorischen Glashaus aufwachsen. Wenn Sie dann mal draußen sind in der Welt, werden Sie ganz bestimmt beim ersten Windstoß einknicken.“ (Rolf Dobelli in: Welt am Sonntag v. 21.7.2024)
Ein neues Phänomen?
In den letzten Jahren hat die Häufigkeit von Panikattacken bei Jugendlichen, insbesondere in stressreichen Situationen wie mündlichen Abiturprüfungen, zugenommen. Dies hat eine hitzige Debatte ausgelöst, ob die Jugend von heute verweichlicht ist oder ob die Schuld bei den sogenannten Helikoptereltern liegt, die ihre Kinder übermäßig beschützen. Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, die komplexen sozialen, psychologischen und kulturellen Faktoren zu betrachten, die zu dieser Entwicklung beitragen.
Panikattacken: Ein wachsendes Phänomen?
Panikattacken sind intensive Angstepisoden, die plötzlich auftreten und von körperlichen Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüchen und Atemnot begleitet werden. In Prüfungssituationen können diese Attacken besonders belastend sein und die Leistungsfähigkeit der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Studien zeigen, dass Prüfungsangst und damit verbundene Panikattacken unter Jugendlichen zunehmen. Dies wirft die Frage auf, warum dies so ist und ob die Jugend von heute weniger belastbar ist als frühere Generationen.
Die Rolle der Helikoptereltern
Helikoptereltern, ein Begriff für Eltern, die übermäßig in das Leben ihrer Kinder eingreifen und versuchen, sie vor jeglichem Misserfolg oder Stress zu schützen, werden oft als Hauptschuldige für die zunehmende Sensibilität der Jugend angesehen. Diese Eltern neigen dazu, ihre Kinder überzubehüten, was dazu führen kann, dass Jugendliche weniger Gelegenheit haben, selbständig Problemlösungsfähigkeiten und Resilienz zu entwickeln.
Ein überprotektives Umfeld kann dazu führen, dass Jugendliche Schwierigkeiten haben, mit stressigen Situationen umzugehen, da sie es gewohnt sind, dass ihre Eltern Probleme für sie lösen. Wenn diese Jugendlichen dann in einer hochstressigen Situation wie einer mündlichen Abiturprüfung allein gelassen werden, kann dies Panikattacken auslösen. Hier scheint die Erziehungspraxis der Helikoptereltern eine entscheidende Rolle zu spielen.
Gesellschaftliche und schulische Einflüsse
Neben der elterlichen Erziehung gibt es weitere Faktoren, die zur Zunahme von Panikattacken beitragen können. Der gesellschaftliche Druck auf Leistung und Erfolg hat in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen. Die Erwartungen an schulische Leistungen sind hoch, und das Abitur gilt als entscheidender Meilenstein für die berufliche Zukunft. Diese immense Erwartungshaltung kann zu einem hohen Maß an Stress und Angst führen.
Die schulischen Institutionen tragen ebenfalls eine Mitverantwortung. Oftmals fehlt es an ausreichender psychologischer Unterstützung für Schüler, die unter Prüfungsangst leiden. Auch das Bildungssystem selbst, das stark auf Prüfungen und Noten fokussiert ist, kann dazu beitragen, dass Schüler sich übermäßig gestresst fühlen.
Psychologische Aspekte
Die Psychologie liefert weitere Erklärungen für das Phänomen der Panikattacken. Jugendliche befinden sich in einer Entwicklungsphase, in der sie viele Veränderungen und Unsicherheiten erleben. Diese Lebensphase ist ohnehin schon von starken Emotionen geprägt, und zusätzliche Stressfaktoren wie Prüfungen können die psychische Belastung weiter erhöhen. Eine gewisse Prädisposition für Angststörungen kann ebenfalls eine Rolle spielen, wobei genetische und neurobiologische Faktoren Einfluss haben.
Sind die Jugendlichen verweichlicht?
Die Frage, ob die Jugendlichen von heute verweichlicht sind, ist komplex und vielschichtig. Es wäre zu einfach, die Jugend pauschal als schwach oder überempfindlich zu bezeichnen. Vielmehr muss anerkannt werden, dass die heutige Jugend in einer Welt aufwächst, die sich erheblich von der ihrer Eltern unterscheidet. Die Digitalisierung, der ständige Zugang zu sozialen Medien und der damit verbundene soziale Druck sind neue Stressfaktoren, die frühere Generationen in dieser Form nicht kannten.
Fazit
Die Zunahme von Panikattacken bei mündlichen Abiturprüfungen kann nicht auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden. Es ist ein Zusammenspiel von überprotektiver Erziehung durch Helikoptereltern, erhöhtem gesellschaftlichen Leistungsdruck, mangelnder schulischer Unterstützung und individuellen psychologischen Faktoren. Anstatt die Jugend als verweichlicht abzustempeln, sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die Resilienz und das Selbstbewusstsein der Jugendlichen zu stärken. Dies umfasst eine ausgewogenere Erziehung, die sowohl Unterstützung als auch Eigenverantwortung fördert, sowie eine verbesserte psychologische Betreuung in Schulen. Nur durch ein ganzheitliches Verständnis und entsprechende Maßnahmen kann das Wohlbefinden der Jugendlichen nachhaltig verbessert werden.
Rolf Dobelli zitiert Jen-Hsun Huang, CEO des Chip-Herstellers NVIDIA, der es vom chinesischen Einwanderer zum Multimilliardär schaffte: ‚Einer meiner Vorteile ist, dass ich sehr niedrige Erwartungen habe. Menschen mit sehr hohen Erwartungen haben eine sehr geringe Widerstandsfähigkeit. Und Resilienz ist wichtig für den Erfolg. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das beibringen soll, außer so: Ich hoffe, dass Ihnen Leid widerfährt! Großartigkeit kommt nicht von Intelligenz. Großartigkeit kommt von Charakter. Und Charakter entsteht durch Leiden. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte für euch Stanford-Studenten, dann wäre es eine große Portion Schmerz und Leid.‘
Nun stelle man sich eine deutsche Abitur-Feier vor, in der der Schulleiter als Höhepunkt seiner Festansprache sich wie folgt äußert: ‚Wenn ich mir etwas wünschen dürfte für Euch Abiturientinnen und Abiturienten, dann wäre es eine große Portion Schmerz und Leid, denn nur so entsteht Charakter. Und nur durch Charakter entsteht Großartigkeit.‘