Die Freiheit der Wahl als Qual
Viele Menschen fühlen sich in der modernen westlichen Welt orientierungslos, verloren und fremdbestimmt. Sie empfinden den Verlust von Selbstkontrolle und Selbstbestimmung in einer religionsfernen, laizistisch-säkularen und sich stetig fraktionierenden Gesellschaft. Das Individuum steht einer Vielzahl widersprüchlicher Werte, Normen und Lebenskonzepte gegenüber und hat die Qual der Wahl. Es besteht ein Bedürfnis nach einer stabilen Basis und einer sicheren Perspektive, die dem Leben Sinn und Richtung gibt.
Vielfalt und Beliebigkeit
Die liberale, demokratische und laizistische Gesellschaft bietet ideale Bedingungen für Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung und Selbstentwicklung. Dennoch empfinden viele Menschen diese Freiheit als Belastung und nehmen oft eine Opferrolle ein. Sie sehen nicht die Freiheit der Wahl, sondern den Zwang zur Entscheidung. Nichts gibt ihnen mehr Sicherheit oder dient als Leitfaden im Alltagsleben. Es fehlt eine Dimension im Leben, die oft als Spiritualität bezeichnet wird, etwas schwer Definierbares. Ist sie vorhanden, findet man möglicherweise leichter einen Sinn im Leben oder gar den Sinn des Lebens.
Viele Klienten fragen sich, wie sie mit diesem Komplex umgehen sollen. Eine oft empfundene innere Leere, die zu Depression und Erschöpfung führen kann, treibt die Menschen auf die Suche nach dem, was ihnen fehlt.
Rolle des Therapeuten als Begleiter
Aus der bedrückenden Situation von Depression und Burnout heraus wenden sich Menschen Meditation, Yoga oder fernöstlichen Lehren zu, da sie sich von den abendländischen Religionen nicht angesprochen fühlen. Der Therapeut kann dem Klienten helfen, aus der Opferrolle herauszutreten und die Krise produktiv zu nutzen. Dies ist ein Schritt zur Selbstermächtigung, zur Wiedergewinnung von Selbstbestimmung und Selbstkontrolle, um ein voll funktionsfähiges Individuum zu werden.
Voraussetzung dafür ist die Offenheit und Kooperationsbereitschaft des Klienten. Ebenso wichtig sind die Offenheit und professionelle Distanz des Therapeuten, den Klienten auf seinem Weg zu begleiten. Dies bedeutet, einen Schritt neben oder hinter dem Klienten zu gehen und nicht voranzugehen und zu führen. Begleiter können auch Gurus, Meister, Schamanen, Meditationslehrer oder priesterliche Begleiter sein, die im Sinne eines Therapeuten wirken.
Spiritualität und Grenzüberschreitung
Spiritualität stellt das Individuum in eine Beziehung zu etwas Größerem, das über die Grenzen des individuellen Lebens hinausgeht und in dem sich der Mensch geborgen und sicher fühlt. Für einige mag es die Idee eines Schöpfergottes sein, für andere das Universum als transzendentes System oder positive, vom Menschen gesetzte Werte wie Liebe, Solidarität, Pazifismus und Menschenrechte.
Der Begleiter sollte den Klienten zur Reflexion seines Werdegangs anregen und fragen, ob er sich als spirituelle oder religiöse Person sieht und welche Erfahrungen er bereits gesammelt hat. Auch der familiäre und soziokulturelle Hintergrund kann von Interesse sein.
Offene und geschlossene Systeme
Religion kann nützlich sein, da sie ein geschlossenes System darstellt, im Gegensatz zu eklektischen spirituellen Systemen, die oft flexibler sind. Wichtig ist, die Menschen dort abzuholen, wo sie gerade sind, und ihnen die spirituelle Dimension anzubieten, sofern sie offen dafür sind. Diese Offenheit kann sich im Laufe des Prozesses entwickeln und es den Menschen ermöglichen, sich allmählich mit ihrem inneren Selbst zu verbinden.
Sie verlassen sich dann weniger auf äußere Mittel wie Konsum, Vergnügen, Drogen, Leistung, Geld, Macht und Statussymbole, um ihre innere Leere zu füllen. Stattdessen rücken innere Werte wie Liebe, Solidarität und Toleranz in den Vordergrund.
Fazit Burnout, Orientierungslosigkeit und Opferhaltung lassen sich eher überwinden, wenn man sich wieder mehr mit sich selbst verbindet, um die Trennung von den eigenen Bedürfnissen aufzuheben. Die Leitfrage für Betroffene lautet: „Was will ich selbst und für mich selbst am tiefsten?“ Allein sich diese Frage zu stellen, lässt erkennen, welche Erwartungen von außen gestellt werden, die man zu erfüllen sich verpflichtet fühlt. Es geht um die Definition des eigenen autonomen Bereichs, aus dem man selbstbestimmt handeln kann.
Diese Grundsätze gelten ebenso für Begleiter, Coaches, Schamanen, Gurus oder Therapeuten. Es ist die Janus-Natur der Therapie.
Quelle: How Can Spirituality Be Used in Clinical Practice? – Medscape – Dec 27, 2018.