Die dunkle und die helle Seite der Angst

Einer meiner Beiträge in diesem Medium handelt von der dunklen Seite der Angst, der sogenannten dysfunktionalen Angst, dargestellt am Beispiel der Prüfungsangst. Jedoch hat die Angst auch ihre helle, gesunde, hilfreiche, also ihre funktionale Seite.

Ohne diese funktionale oder positive und gesunde Seite der Angst, zum Beispiel vor dem berühmt-berüchtigten Säbelzahntiger aus der grauen Vorzeit unserer der Evolution, hätte sich der naiv-gutgläubige Mensch diesem Tier genähert. Die Folgen für Mensch und Tiger kann man sich ausmalen. Funktional für den Tiger, dysfunktional für den Menschen. Und was, wenn alle unsere damals lebenden Vorfahren sich so verhalten hätten? Die Antwort erübrigt sich bereits vor der Fragestellung. Uns gäbe es nicht. Angst half also unserer Spezies zu überleben.

Der Unterschied zwischen Sich fürchten oder Angst haben vor etwas

Im Gegensatz zur Furcht, die beim Auftauchen einer konkreten oder vermeintlichen äußeren Gefahr entsteht, ist die Angst, das Angstgefühl, um das es hier geht, eine Befindlichkeit des Menschen, ein reinemotionaler Erregungszustand. Es ist das Gefühl der permanenten und existenziellen Bedrohung, ohne dass die Ursache, die Quelle der Bedrohung konkret benannt werden kann.

Das Gefühl der Angst beschleicht den Menschen, wenn die Ahnung einer unbestimmten oder nicht näher bestimmbaren Gefahr besteht. Der Mensch wird in einen Zustand erhöhter Erregung versetzt, sein Fokus richtet sich auf den tatsächlichen oder auch nur angenommenen Gegner bzw. Auslöser, und man bereitet sich auf die drei möglichen Reaktionen vor: fight, flight oder Totstellen. Innerhalb von Bruchteilen von Sekunden muss das Individuum, das sich der Gefahr ausgesetzt fühlt, sich zwischen diesen drei Alternativen entscheiden. Hat der Mensch die angemessene Entscheidung, die zum Überleben geeignete, getroffen, geht die Angst allmählich wieder in den Normalzustand zurück. Die Erregungskurve flacht ab. So kann Angst lebensrettend, also aktivierend und mobilisierend sein. Die Angst als grundlegender innerer Zustand hingegen ist lebensbedrohend, erdrückend und lähmend.

Die kognitive Funktion von Furcht

Im Gegensatz zur Angst ist Furcht eine eher kognitive, also vernunftbetonte Leistung. Der Holzfäller in Kanada muss wissen, dass der Grizzly nicht sein Freund sein kann, er sich also vor dem Tier in Acht zu nehmen hat. Rotkäppchen aber hat vergessen, was Mutter sie lehrte: hab Acht vor dem bösen Wolf, fürchte dich vor ihm.

Es sind die drei der wichtigsten Faktoren der unbestimmten Angst, der Angst vor Allem und Jedem Angst zu haben.

So mussten sich das Schicksal des kanadischen Holzfällers und das von Rotkäppchen zwangsläufig unterscheiden. Es sei denn, auch der Holzfäller hätte vergessen … Aber das wäre wieder eine andere Geschichte.

Furcht lehrt uns, potenziell gefährdende und gefährliche Situationen kognitiv vorwegzunehmen, von ihnen Abstand zu halten und sie bewusst zu meiden. Die helle, gesunde und funktionale Angst bewahrt uns vor Risiken, die wir unter Umständen nicht beherrschen und nicht kontrollieren können. Und wir können nun mal manche Risiken nicht beherrschen, das heißt nicht kontrollieren. Wir würden ohne den Schutzschirm unserer Furcht einen Kontrollverlust erleiden, sowohl der Situation als auch uns selbst gegenüber. Wir empfinden uns als Opfer, als Objekte willkürlicher Entscheidungen anderer Entscheider, die wir weder einschätzen können noch deren Hintergründe, Absichten und Ziele kennen. Wir fühlen uns unbekannten Bedingungen und Mächten ausgesetzt. Was uns ursprünglich beschützen, bewahren und überleben lassen sollte, kehrt sich nun in eine dunkle, negative und dysfunktionale Kraft um: Unsicherheit, Abhängigkeit, Fremdbestimmung überfallen uns.

Drei wichtige Faktoren der Angst

Es sind die drei der wichtigsten Faktoren der unbestimmten Angst, der Angst vor Allem und Jedem Angst zu haben.

Angst lähmt.

Man verspürt Angst, Entscheidungen zu treffen, weil man Angst vor den möglichen und kaum absehbaren Konsequenzen hat. Man hat Angst vor der Verantwortung, sowohl der Verantwortung sich selbst gegenüber als auch der Verantwortung für Andere. Angst lähmt. Man hat Angst, einen fremden Ort, einen neuen Arbeitsplatz zu suchen, weil man nicht weiß, wie und was man dort vorfinden wird. Man hat Angst, von der Wahrheit einer Erkrankung zu erfahren, vermeidet den rechtzeitigen Arztbesuch oder den notwendigen chirurgischen Eingriff. Angst wirkt lebensbedrohend. Der Mensch sieht sich durch den doppelten Kontrollverlust, das heißt Verlust von Selbst- und Situationskontrolle, fremd in seiner Lage, er ist im Ungewissen dessen, was ihm droht oder wer ihn bedroht. Er fühlt sich alleingelassen, zurückgeworfen auf sich selbst, da er nicht in der Lage ist, das nicht benennbare, das nicht greifbare Gefühl zu definieren und zu kommunizieren. Er neigt daher dazu, ein gesundes Maß an Vorsicht so zu überhöhen, dass er nicht mehr aus der Ecke kommt, in der er sich sicher fühlt und die er kontrollieren kann. Gefährlich ist die besondere Form der sogenannten ge- oder erlernten Angst. Wenn Eltern ihren Kindern ein Leben in Angst vorleben, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es die Kinder so übernehmen. Tiefsitzender Pessimismus, gepaart mit chronischer Angst führt nun allzu leicht zu heftigen emotionalen Schäden, die zu Panikattacken führen können. Insoweit betroffene Menschen projizieren ihre Angst zum Teil auf äußere Objekte wie Spinnen, Schlangen, Menschenansammlungen oder leere und große Plätze. Sie entwickeln Phobien, neurotisches Verhalten, Dinge, die aber therapierbar sind.

Die Wirkung des Angstgedächtnisses

Das Angstgedächtnis jedoch besteht weiterhin, es kann aber durch eine Konfrontationstherapie unter Kontrolle gebracht werden. Der Mensch lernt, die Angst zu kontrollieren und ist nicht mehr Opfer oder Objekt der Angst. Der so Therapierte weiß zwar nach wie vor um die Angst, er beherrscht sie aber und gewinnt somit die Kontrolle über seine Gefühle, die Situation und sich selbst zurück. Unsicherheit, Fremdkontrolle, Ungewissheit und die Angst vor der Angst verlieren zum großen Teil an Macht und Einfluss über den Betroffenen. Der Mensch wird vom Objekt anderer zum Subjekt und Gestalter des eigenen Lebens.

Anlage oder Umwelt: nature or nurture

Es ist nach wie vor ein Rätsel, in welchem Umfang das Individuum überhaupt der Gestalter, der Architekt seines Lebens sein oder werden kann. Wir sind schließlich alle die Kinder unserer Eltern und Enkel unserer Großeltern, die unseren Genpool bildeten und uns damit genetisch ausstatteten. Was von diesen sowohl positiven als auch negativen Potenzialen letztendlich zum Tragen kommt, hängt zum Teil auch von unserem eigenen Lebensstil, von unserer Umwelt und deren Einflüssen, aber auch unseren individuellen und subjektiven Erfahrungen ab. Die vor ca. zwei Jahrzehnten oft gestellte Frage bzw. Alternative ‚nature or nurture‘, also ‚angeboren oder anerzogen‘, genetisch vorbestimmt oder umweltbedingt‘, übervereinfachte den Blick und war dem damaligen Kenntnisstand geschuldet. Auch spielten politisch-ideologische Einflüsse ihre Rolle.

Die DNA eines jeden Menschen verfügt über bestimmte Methylisierungsmuster, deren Methylgruppen die DNA schützen. In Zeiten von Hungersnöten verschwinden einige der Methylgruppen, denn der Körper stellt sich auf die Mangelernährung um. Alles zu sich Genommene wurde optimal verwertet. Kommen dann wieder Zeiten des Überflusses und des Wohlstands, hält die gute Essensverwertung bei gleichzeitig hoher Nahrungsmittelaufnahme an. Übergewicht und Diabetes, vielleicht sogar Schädigung der Pankreas, sind die möglichen Folgen. Was in ‚schlechten Zeiten‘ das Überleben sicherte, erweist sich in ‚guten Zeiten‘ als schädlich bis destruktiv.

Die Traumaforschung bringt es an den Tag

Vergleichbar verhält es sich bei seelischen Traumata. So wurden bei durch Kriegserlebnisse traumatisierte Frauen, die in anschließenden Friedenszeiten schwanger wurden, epigenetische Veränderungen festgestellt.

Sowohl bei den Schwangeren selbst als auch bei deren Babys als auch bei deren Babys zeigten sich Veränderungen im Erbgut, in eben den Methylisierungsmustern. Es waren in der Regel ca. 25 Gene, darunter das Gen FK PB5, quasi stillgelegt oder abgeschaltet. Letzteres Gen beeinflusst die Produktion und Wirkungsweise des Stresshormons Kortisol. Ist das betroffene Gen abgeschaltet, kann der Mensch nicht mehr angemessen mit Stress umgehen. Belastungs- und Anpassungsstörungen sind die Folge. Chronifizieren sie, befindet sich der Mensch im permanenten Alarmzustand, der sich verselbstständigt, da allmählich der konkrete Bezug, der ursprünglich unmittelbare Auslöser verloren geht. Es entsteht eine sogenannte ‚frei flottierende angst‘, was sich in einer chronisch erhöhten Erregungskurve zeigt. Tritt dann eine zusätzliche Belastung ein, gerät der Betroffene in Panik.

Angst als Grundbefindlichkeit wird erhöht durch eine neu entstehende Angst, mit einem neuen Auslöser, auch Trigger genannt, wird diese getoppt durch die Angst vor der Angst, der ‚frei flottierenden Angst‘ oder einer ‚generalisierten Angststörung‘.

Der Weg ist frei für die nächste Panikattacke.

Die folgende Grafik zeigt die mögliche Entwicklung von normaler Erregung zur gesteigerten. Menschen im chronischen Angstzustand befinden sich permanent im roten Bereich. Durchschlägt die rote Kurve den Level der maximalen Erregung, gerät der Mensch in Panik.

Quelle: www.born-psychotherapie.de/koerper.htm
Quelle: www.born-psychotherapie.de/koerper.htm

Die Rolle der Transmitter

Auf der Ebene des Stoffwechsels läuft das so ab, dass der Impuls des Stressauslösers durch einen oder mehrere unserer fünf Sinne im Gehirn ankommt. Dies veranlasst die Nebennierenrinde den Botenstoff (Hormon) Adrenalin auszuschütten und diesen über das Blut zu unterschiedlichen Organen zu transportieren. Der Körper, also Gehirn und andere Organe, werden zunächst in Alarmzustand versetzt. Wenn aber der Mensch sich bereits in der Grundbefindlichkeit der Angst bewegt und sich einem erhöhten Erregungszustand ausgesetzt sieht, kann er unmittelbar in Panik geraten. Das für den Körper gerade noch erträgliche maximale Erregungsniveau wird durchbrochen.

Das Adrenalin baut sich jedoch relativ rasch wieder ab. Das weiß jeder, der sich schon einmal bewusst einer Risiko- oder Erregungssituation aussetzte. So geht die freudige Erregung nach einem Bungee-Sprung relativ schnell vorüber und Körper und Geist schreien nach mehr. Es kann der Beginn eines Suchtverhaltens werden, wobei es nicht nur um Adrenalin gehen mag, sondern auch um Alkohol, Nikotin, Kokain oder Heroin. Das als angenehm empfundene Gefühl verschwindet, Körper, Geist und Psyche wollen aber dringend und drängend ins vermeintliche Paradies zurückkehren. Und immer öfter wird dem Drängen nachgegeben. Aus dem ursprünglichen Bestimmer wird der, über den bestimmt wird. Er wird zum Opfer der Sucht, so wie er Opfer der Angst geworden ist.

Ein Vergleich mit Suchtverhalten sei erlaubt

Zurück zum Stoffwechsel.

Das Adrenalin verschwindet aber nicht spurlos aus Körper, Geist und Psyche. Es löst die Ausschüttung von ACTH (adrenocorticotropes Hormon) aus, was wiederum die Produktion des Stresshormons Cortisol bewirkt. Der Mensch in seiner Dreieinigkeit aus Körper, Geist und Psyche bleibt im Alarmmodus, selbst wenn sich die tatsächliche oder auch nur vermeintliche Gefahrensituation aufgelöst hat. Die innere Angst als Dauerbefindlichkeit beherrscht den Menschen und bestimmt sein Verhalten, Denken und Fühlen. Glaubenssätze und Denkmuster wie ‚Ich kann das nicht‘, ‚Ich schaffe das nicht‘, ‚Das ist zu viel für mich‘ etc. kontrollieren Geist und Psyche und damit sein Leben.

Es entwickelt sich ein sich selbst beschleunigende Angstspirale, Angst davor, dass überhaupt etwas Schlimmes geschehen könnte, vor dem man Angst haben müsste. Es ist die frei flottierende Angst, die generalisierte Angst, ein Gefühl, das wie ein schwerer Nebel, ein hemmendes Leichentuch den Menschen umhüllt und bedeckt.