"Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst"
„Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst“

In seinem Buch „Das Kind in uns. Wie finde ich zu mir selbst, nähert sich John Bradshaw dem ‚inneren Kind‘ von der tiefenpsychologischen und der psychoanalytischen Seite.

Er zitiert im Eingang zum 3. Kapitel den Individualpsychologen und Freud-Schüler Carl Gustav Jung, der die Neurose als einen Ersatz für das eigentliche Leiden sah.

Alice Miller vertritt einen ähnlichen Standpunkt. Wer im Erwachsenenalter Probleme habe, so Alice Miller in ihrem Buch „Das Drama des begabten Kindes„, hatte in seiner Kindheit Angst vor der Verachtung der heißgeliebten Mutter. Die hier erworbenen und erfahrenen Traumata gilt es aufzulösen, da sich die Störungen im Erwachsenenalter nicht durch Weinen lösen lassen.

Die Verletzung des frühkindlichen Schamgefühls als Urschmerz

Bradshaw folgt der Theorie, die der Verarbeitung dieses Urschmerzes zugrunde liegt, so also auch der Titel des 3. Kapitels seines Buches.

Bild von Raquel Candia auf Pixabay
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Bradshaw sieht den Grund und die Ursache aller Neurosen, zwangs- und stofflicher als auch emotionaler Suchtkrankheiten in der Verletzung des frühkindlichen Schamgefühls. Er definiert Schamgefühl als das Gefühl eines Menschen fehlerhaft und minderwertig zu sein.

Dieses Bewusstsein oder Gefühl wird als chronifiziertes Trauma verinnerlicht und so letztlich zum Seinszustand des Menschen. Dieser Seinszustand ist dann wesentlicher Teil der individuellen Identität und hält den Menschen in Distanz zu seinem wahren inneren Selbst, seinem inneren Kind.

Die Entfremdung legt sich ‚schwer auf das Gemüt‘, es entsteht also eine Dysthymie (dys = schlecht, schwer, thymie = Verfassung, Stimmung, Gemüt), weithin bekannt als leichte, aber chronische Depression. Diese leichte, aber andauernde, nie vergehende Traurigkeit ist die Grundstimmung des betroffenen Menschen, sein Leben lang. Die Dysthymie ist der Filter jeglichen Erlebens, jeglicher Erfahrung, der Sicht aller Dinge, auch der Sicht der eigenen Person und Persönlichkeit, also des Selbsterlebens, der Selbstwahrnehmung und damit des Selbstbildes.

Das verloren gegangene Selbstwertgefühl als andauernde Quelle der Scham

Die Scham als Gefühl der eigenen Wertlosigkeit und Fehlerhaftigkeit ist das überlagerte, weil Grundgefühl, als auch das überlagernde, weil alles bestimmende, Gefühl aller anderen Gefühle wie Zorn, Furcht, Kummer und aber auch Freude. Zum letzteren fragt sich der Betroffene, wenn er Freude empfindet, ob er überhaupt ein Recht hat, Freude empfinden zu dürfen.

Er schämt sich, um Hilfe zu bitten. Er schämt sich, sich körperlich und sexuell auszudrücken.

Die daraus resultierenden Misserfolge stellen eine permanente Retraumatisierung dar und führen zur Gefühllosigkeit. Er bittet nicht mehr um Hilfe, weil er Angst hat, zurückgewiesen zu werden. Die befürchtete Zurückweisung ist aber seine innerliche Realität und wirkt sich genauso aus wie eine tatsächliche Zurückweisung mit all ihrer Verletzung. Es ist quasi eine negative Copingstrategie, wobei das erwünschte Ziel, tatsächlich akzeptiert zu werden, gar nicht erreicht werden kann, da der Versuch nicht in vivo, sondern in sensu stattfindet, aber die Wirkung eines in vivo-Prozesses hat.

Die möglichen Folgen für das äußere Verhalten des Menschen

Die sich einstellende Gefühllosigkeit hat schließlich zur Konsequenz, dass der Mensch nur noch durch die Übersteigerung der Selbst-Wahrnehmung, also im Rausch, noch etwas empfinden kann. Er spürt sich nur noch in und durch Arbeit (Workaholic), Leistungssport (Sportaholic), Alkohol (Alcoholic) oder Genusssucht (Fressaholic) und sucht Hilfe und Erleichterung durch drogeninduzierte Stimmungsveränderungen.

Der Mensch sieht sein Äußeres als vielleicht erfolgreiches Mitglied der Gesellschaft, empfindet seinen inneren Zustand jedoch in Selbstverachtung als fehlerhaft und minderwertig, als das minderwertige und fehlerhafte Kind, als das er immer behandelt wurde.

Eine kaum erträgliche Spannung

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay
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Durch die Diskrepanz zwischen äußerem starken Erwachsenen, der beruflich und sozial vollauf funktioniert, und innerem Kind, als eigentlichem Kern der Persönlichkeit, in Wertlosigkeit und Fehlerhaftigkeit verhaftet geblieben, entsteht eine Spannung, die ein Mensch nur schwer auf Dauer zu ertragen in der Lage ist, ohne mit Hilfe von Hilfsmitteln diesen Druck zu mindern. Oder es entsteht eine Form der Aggression, die sich sowohl nach innen als auch nach außen wenden kann. Nach innen entsteht die Autoaggression als selbstzerstörerisches Verhalten. Der Mensch kann sich je nach Form des Suchtverhaltens, sich tot arbeiten, tot saufen, tot fixen, tot rauchen, sich als durch Rückzug und Totalisolation sich selbst als soziales Wesen töten und als Vorstufe selbst verwahrlosen, da er es sich selbst noch anderen gegenüber wert ist, etwas für sich zu tun. Die Wirklichkeit und er selbst sind für ihn unerträglich geworden.

Diese Unerträglichkeit des Seins im Seinsgefühl der persönlichen Unzulänglichkeit, Fehlerhaftigkeit und Wertlosigkeit muss abgewehrt und bekämpft werden.

Mögliche dysfunktionale Copingstrategien

Dazu stehen dem Menschen 6 Strategien zur Verfügung.

  1. Die Verleugnung.
    Der Betroffene redet sich ein und macht sich glauben, dass alles, was er erlebt, eigentlich gar nicht wahr sein kann.
  2. Die Verdrängung.
    Hier macht sich der Betroffene glauben, dass alles, was er erlebt hat, nur glaubt, dass er es erlebt hat und dass alles gar nicht in Wirklichkeit geschehen ist. Alles ist und war nur ein Traum.
  3. Die Abspaltung.
    Den Prozess der Abspaltung nennt man auch Dissoziierung. Hier versucht der Betroffene sich davon zu überzeugen, dass er sich an nichts erinnern kann von dem, was in Wirklichkeit tatsächlich geschehen ist.
  4. Die Projektion.
    Das, was man erlebt hat und nicht ertragen kann, dass es tatsächlich geschehen ist, wird auf andere projiziert. Es kann vielleicht anderen widerfahren, aber nicht mir.
  5. Die Konversion.
    Wenn im Betroffenen ein Gefühl aufkommt, dass ihm etwas Schlechtes widerfährt, wird dieses Gefühl, welches das Bewusstsein nicht zu akzeptieren in der Lage ist, in ein körperliches Symptom umgewandelt. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen körperlicher Symptomatik und seelischem Leiden ist zunächst nicht zu erkennen und kann daher auch erstmal nur vermutet werden. Es ist das weite Feld der Psychosomatik.
  6. Die Verkleinerung.
    Der Betroffenen redet sich alles, was ihm widerfahren ist und was er erlebt, klein, indem er es verbal abtut mit den Worten, ‚alles halb so schlimm,‘ kann jedem passieren‘, ist nur ne Kleinigkeit.‘

Ein Leben im Ersatz statt im möglichen Sein: der Primat der Gefühle

Diese Abwehrmechanismen und Abwehrstrategien, auch Coping-Strategien genannt, sind im eigentlichen Sinne lediglich Ablenkungsmanöver, die die Aufmerksamkeit des Betroffenen von seinen tatsächlichen Empfindungen und den damit verbundenen Tatsachen ablenken auf Ersatzempfindungen oder Ersatzhandlungen.

Ausgehend von der Ansicht, dass Gefühle als das unmittelbare körperliche Erleben dem Bewusstsein vorausgehen, spricht man in der Psychologie auch vom sogenannten Primat der Gefühle.

Es hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass man von neun angeborenen Gefühlen ausgehen kann. Natürlich gibt es sowohl Reduktion als auch Extension, je nach Theorie oder Schule.

Diese Gefühle können auch als Wirkungs- und Steuerungsmuster für das menschliche Denken und Handeln gesehen werden. Diese Steuerungsfaktoren sind 1. Interesse /  Begeisterung,  2. Vergnügen / Freude,   3. Überraschung / Schrecken,   4. Leid / Qual, 5. Ärger / Wut,   6. Angst / Grauen,  7. Scham / Demütigung,  8. Ekel vor schlechtem Geruch   und  9. Ekel vor schlechtem Geschmack.

Bei den ersten 7 Gefühlen stellt der Begriff hinter dem Slash jeweils die Steigerung des zuerst genannten Gefühls. Die beiden letztgenannten Gefühlsformen des Ekels sind entwicklungsgeschichtlich jünger als die sieben erstgenannten.

Eine alte Erkenntnis erlangt aktuelle Bedeutung

Bereits Epiktet (50-138 n. Chr.) erkannte, dass Ereignisse oder Erfahrungen, die die Menschen machen, nur dann für sie von Bedeutung sind und einen Einfluss auf ihr Denken und Fühlen haben, wenn sie vom Betroffenen jeweils mit Emotionen aufgeladen werden, das heißt, wenn sie den jeweiligen Menschen gefühlsmäßig berühren.

Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen,‘ lautet sein viel zitierter Satz, der diese Auffassung ausdrückt.

Aus diesen neun Gefühlen oder deren Steigerungen erwachsen sechs Antriebskräfte, auf die der Mensch, je nach Situation, zurückgreifen kann.

Die positiven Kräfte, die man auch als Ressourcen bezeichnen kann oder auch als funktional, sind Interesse, Freude und Überraschung.

Ihre Antipoden, also die dysfunktionalen Kräfte, sind Kummer, Angst und Zorn. Die Scham nimmt hier eine Sonderstellung ein, da sie meist nur dann eintritt, wenn ein Mensch plötzlich und unvorhergesehen vor anderen bloßgestellt wird. Die Scham unterbricht diesen Prozess der Bloßstellung im Bewusstsein des Betroffenen oder schränkt den Umfang und die Intensität dieses Erleben ein.

Allgemein entwicklungsgeschichtlich gesehen hatten und haben positive als auch negative Gefühle immer auch eine Schutz- und Wachstumsfunktion für den Menschen. Sie sind per se nicht schlecht. Es kommt darauf an, die Kräfte zu erkennen und zu lernen, sie zu kontrollieren.