König Belsazar veranstaltet ein großes Fest und betrinkt sich. In seiner Trunkenheit wird er übermütig und lässt sämtliche goldenen und silbernen Kelche und Pokale herbeischaffen, die sein Vater, König Nebukadnezar II., aus Jerusalem geraubt hatte. Belsazar trinkt nun aus diesen Gefäßen und lässt seine Götter preisen.

Daraufhin erscheint eine geisterhafte Hand ohne menschlichen Körper und schreibt mit ihren Fingern fremdartige Worte an die Wand. Man ruft Daniel (der aus der Löwengrube) und er liest: ‚Mene meine tekel uparsin.‘ Daniels Interpretation: Gott hat deine Tage gezählt, deine Zeit ist abgelaufen, deine Herrschaft ist beendet, dein Handeln ist gewogen und als zu leicht befunden, dein Reich wird den Persern und Meden übergeben.‘ Soweit der biblische Hintergrund des Symbols.
Das biblische Motiv des Menetekels (Daniel 5) ist ein faszinierendes Bild für das Ende einer Ära und die unausweichliche Konfrontation einer Gesellschaft mit den Konsequenzen ihres eigenen Handelns. Die Worte ‚Meine, Meine, Tekel, Uparsin‘ kündigten damals den Fall Baylons an und standen als warnende Botschaft: Die Zeit ist abgelaufen, das Handeln wurde gewogen und als zu leicht befunden, und die Konsequenz – das Zerbrechen der Herrschaft – ist unabwendbar.
In der aktuellen gesellschaftlichen Debatte, insbesondere am Beispiel der Herausforderungen für einen Riesen wie Volkswagen und den VW-Konzern insgesamt, zeigt sich das Menetekel-Symbol für die Dringlichkeit einer gesellschaftlichen Neuorientierung und die wachsende Notwendigkeit von Eigenverantwortung und einer Anpassung der gesellschaftlichen Strukturen sowie die Anpassung des Individuums an die neuen Strukturen. Es ist wohl die zweite Transformation der Gesellschaft neben der digitalen.
Das biblische Menetekel als archetypische Warnung: Das Menetekel tritt in der Bibel als Zeichen des göttlichen Gerichts und der moralischen Bilanzierung auf. Es ist das Symbol für das Ende einer Ära und wird als unmissverständliche Warnung an einen Machtmissbrauch gelesen, der langfristig Konsequenzen nach sich zieht. Im übertragenen Sinne repräsentiert das Menetekel den Moment, in dem ein System – politisch, sozial oder wirtschaftlich – an einer Grenze gelangt, an der Anpassung und Wandel zwingend erforderlich sind. Dieses Motiv mahnt zur Umkehr und zur Verantwortung für das eigene Handeln, da nach einer Zeit des Missbrauchs und der Überschreitung von Grenzen Konsequenzen unausweichlich erscheinen.
Die Interpretation des Menetekels in der modernen Gesellschaft: In einer modernen, pluralistischen Gesellschaft könnte das Menetekel weniger als göttliches Gericht, sondern als unausweichliche Konsequenz menschlichen Handelns interpretiert werden. Es erscheint dort, wo eine Gesellschaft ihre Nachhaltigkeit und langfristige Perspektive aufgibt, um kurzfristige Bedürfnisse und gewohnten Komfort zu bedienen. Die ‚Warnung an der Wand‘ symbolisiert so den Zustand, in dem eine Gesellschaft sich entweder bewusst wird, dass ihr jetziges Verhalten in eine Krise führt, oder dass sie diesen Punkt bereits überschritten hat.
Gesellschaftliche und massenpsychologische Bedeutung: Das Menetekel spricht insbesondere massenpsychologische Mechanismen an, die in Krisenzeiten greifen. In einer Gesellschaft, die an einem Scheidepunkt steht, treten häufig Mechanismen wie Verdrängung, Kurzfristdenken und das Streben nach Sicherheit durch bekannte Strukturen in den Vordergrund. Das Menetekel, das auf Veränderung und Eigenverantwortung drängt, stellt die Bevölkerung vor eine Herausforderung, denn es bedeutet, dass es kein ‚Weiter-so‘ geben kann. Massenpsychologisch betrachtet, sehen wir dabei häufig eine Spaltung: Während wir erkennen, dass Anpassungen notwendig sind, klammern sich andere noch stärker an bestehende Strukturen und Sozialtransfers und vermeiden die Auseinandersetzung mit notwendigen Reformen.
VW und die Arbeitswelt: Die jüngsten Entwicklungen bei Volkswagen, die Unsicherheiten und die #Diskussion um Werkschließungen, Beschäftigungszahlen, Arbeitszeiten und Work-Life-Balance, können als Menetekel für den gesamten Arbeitsmarkt und die Wirtschaft gedeutet werden. Die Automobilindustrie, die jahrzehntelang als sicherer Wirtschaftsfaktor galt, steht vor einem fundamentalen Wandel. VW, das einst als Inbegriff für eine gut geregelte Arbeit in einem stabilen Industriezweig galt, sieht sich nun mit der Herausforderung konfrontiert, Arbeitsplätze abzuschaffen und Werke zu schließen, um Kosten zu reduzieren und wieder konkurrenzfähig zu werden.
Dieses Beispiel zeigt, dass das bisherige Sicherheitsdenken in der Arbeitswelt zunehmend durch Flexibilität und Eigenverantwortung ersetzt werden muss. Gerade in einer sich schnell verändernden Weltwirtschaft und unter dem Druck der Digitalisierung, Globalisierung und Überalterung müssen Unternehmen und Mitarbeiter sich gemeinsam an neue Bedingungen anpassen
Das bisherige Modell, das zum Beispiel VW etablierte, beruht auf relativ starren Arbeitszeiten und einem umfangreichen Kündigungs— und Sozialschutz. Auch hier muss ab sofort in Richtung individueller Verantwortung und Flexibilität umgedacht werden, um die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber neuen Playern auf dem Markt wiederherstellen zu können. Die goldenen Kelche und silbernen Pokale der Exportrekorde der Vergangenheit sind nur noch Erinnerungen an Bedingungen, die man als natur- oder gottgegeben ansah.
Die neue Bedeutung von Eigenverantwortung und der notwendige Abbau von Sozialtransfers: Die Einführung von mehr Eigenverantwortung – sei es in Bezug auf die Vorsorge oder die Flexibilität im Beruf – wird in einer Gesellschaft, die am Scheideweg steht, unerlässlich. Hierbei müssen langfristige Perspektiven vor kurzfristigen Bedürfnisbefriedigungen treten. Gerade in einer Gesellschaft, die historisch stark auf soziale Sicherungssysteme gesetzt hat, scheint das Menetekel die Notwendigkeit eines Kurswechsels aufzuzeigen: Sozialtransfers dürfen nicht mehr als selbstverständlich oder gar naturgegeben betrachtet werden, sondern ausschließlich dort zum Einsatz kommen, wo tatsächlich Bedarf besteht. Soziale Sicherungen sollen helfen, soziale Mobilität zu fördern, jedoch nicht dazu dienen, langfristige Abhängigkeiten zu schaffen und überholte Strukturen zu erhalten.
Das Menetekel als Aufforderung zur Erneuerung: Die Herausforderung, vor der wir stehen, liegt nicht nur in der Veränderung der Arbeitswelt oder in der Reduzierung von Sozialtransfers. Vielmehr mahnt das Menetekel zu einer gesamtgesellschaftlichen Erneuerung und einem Umdenken. Es geht darum, sich nicht in kurzfristigen Konsumbedürfnissen oder der Erhaltung bequemer Strukturen zu verlieren, sondern gemeinsam an einer zukunftsfähigen Gesellschaft zu arbeiten, die Eigenverantwortung, Flexibilität und Nachhaltigkeit fördert. Dabei ist es wichtig, dass Individuen lernen, Verantwortung für sich und die Gesellschaft zu übernehmen und nicht ständig nach dem Staat zu rufen.

Das ‚Menetekel VOLKSWAGEN‘ mahnt uns, die Zeichen der Zeit zu erkennen und mutig in eine Zukunft zu gehen, in der Flexibilität und Verantwortung die Pfeiler des sozialen Zusammenlebens sind. Ein solches Umdenken fordert von jedem Einzelnen, die eigene Rolle in der Gesellschaft zu überdenken und die Bereitschaft zur Veränderung mitzubringen – bevor es zu spät ist und die deutsche Industrie den modernen Persern und Medern, sprich Chinesen und Indern, übergeben wird.
Texte zur Zeitenwende
- Zeitenwende VII: Die Bedeutung von Individualisierung, Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung in der fundamentalen Krise der bürgerlich-postkapitalistischen Massengesellschaft
- Zeitenwende VI: Die Krise um VW als Menetekel für Deutschland
- Zeitenwende V: Krisenbewusstsein und Bewusstsein in der Krise: Eine systemische und massenpsychologische Betrachtung
- Zeitenwende IV: Auslagerung von Familienleistungen durch Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft
- Zeitenwende III – Der Zerfall der Familienstrukturen in der postindustriell – kapitalistischen Gesellschaft
- Zeitenwende II – Der überbordende Versorgungsstaat nimmt den Menschen Freiheit und Selbstbestimmung
- Zeitenwende I – Die Überbehütung der Kinder in der postindustriellen kapitalistischen Überflussgesellschaft