Die moderne westliche Gesellschaft ist geprägt von einem starken Fokus auf Individualisierung, Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung. Viele Menschen streben nach persönlichem Erfolg, Wohlstand und Effizienzsteigerung. Prägen nicht nur den Einzelnen, sondern wirken auch tief in die Strukturen und Werte der Gesellschaft ein. Diese Werte Diese Trends sind eng verbunden mit einer kapitalistisch geprägten Welt, in der Wettbewerb und Leistung als höchste Werte gelten. Doch während sie zunächst wie wünschenswerte Ziele erscheinen, bergen sie auch tiefgreifende Schattenseiten, die zu gesellschaftlichem Zerfall und einer weitverbreiteten Sinnkrise beitragen und somit das soziale Gefüge und den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine harte Probe stellen.
Individualisierung und das Auseinanderdriften sozialer Strukturen: In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Gesellschaft zunehmend von traditionellen Gemeinschaftsstrukturen entfernt und sich stärker auf das Individuum konzentriert. Sie ermöglicht es dem Einzelnen, sich frei zu bewegen und persönliche Lebensentwürfe zu verfolgen, sei es beruflich, örtlich, familiär oder auch nach sexuellen Orientierungen. Individualisierung einst als Befreiung des Einzelnen von sozialen Zwängen und als Schritt hin zu Selbstbestimmung und Autonomie verstanden, hat sich in der Gegenwart zu einem Selbstzweck entwickelt. Die Überbetonung der individuellen Freiheit und Selbstentfaltung verschiebt das gesellschaftliche Gleichgewicht und begünstigt eine Atmosphäre der Vereinzelung. Während früher Gemeinschaft und Solidarität im Mittelpunkt standen, sehen sich immer mehr Menschen isoliert und auf sich allein gestellt. Statt kooperativer Beziehungen entstehen Wettbewerbsmentalitäten, die in einen zerstörerischen Konkurrenzkampf entarten. Die Last der Einsamkeit und der Eigenverantwortung erhöhen den Leidensdruck der sozialen Isolation. In der Arbeitswelt zählt der Erfolg des Einzelnen oft mehr als das Wohl des Teams. Es herrscht die Einsamkeit in der Massengesellschaft.
Selbstverwirklichung und die Illusion der Freiheit: Das Streben nach Selbstverwirklichung ist ein zentrales Merkmal der heutigen Gesellschaft. Menschen möchten ihren eigenen Interessen und Wünschen nachgehen und ein authentisches Leben führen. Die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung wird oft als erstrebenswert und erfüllend dargestellt, doch sie führt auch zu einem gesteigerten Druck, das ‚beste Ich‘ zu werden. Gesellschaftliche Erwartungen an das Selbst beinhalten mittlerweile nicht mehr nur beruflichen Erfolg, sondern auch körperliche Fitness, emotionale Ausgeglichenheit und soziale Anerkennung. Ökonomische, physische und psychische sowie mentale Selbstausbeutung gehen einher mit spiritueller Entleerung, empfunden als Burnout, Depression und letztendlich Sinn- und Wertlosigkeit des eigenen Selbst und der eigenen Existenz. Die Freiheit, zu tun und zu lassen, was man will, führt oft zu einer Überforderung und einem Gefühl der Orientierungs-, Ziel- und Sinnlosigkeit, da es kein gemeinsames Ideal gibt, auf das alle hinarbeiten.
Selbstoptimierung und das endlose Streben nach Perfektion: Ein weiteres Merkmal unserer Zeit ist der Trend zur Selbstoptimierung, der Versuch, die eigene Leistungsfähigkeit und Effizienz ständig zu steigern. Selbstoptimierung wird in vielen Bereichen des Lebens erwartet und gefördert: Vom optimierten Körper über effektiv genutzte Freizeit bis hin zur Steigerung der beruflichen Leistungsfähigkeit wird das Individuum zur eigenen Projektionsfläche, zum Objekt seines Selbst. Ein Selbst, welches es zu perfektionieren gilt. Fitness-Apps, Life-Coaches und Zeitmanagementstrategien versprechen, aus dem Normalo einen ‚besseren‘ Menschen zu machen, der produktiver, erfolgreicher und zufriedener mit sich selbst ist. Die Verinnerlichung des von außen herangetragenen, geforderten und geförderten Ideal-Ich, dessen Absolutsetzung und Vergöttlichung führen in die Hölle einer permanenten und toxisch-negativen Selbstkritik. Sie führt zu einem chronischen Gefühl der Unzulänglichkeit und Enttäuschung, nicht gut genug zu sein. Der Mensch wird zum Opfer seiner als eigenen wahrgenommenen Ansprüche, die in Wirklichkeit das Höchstmaß an Manipulation und Fremdbestimmung darstellen. Aus ursprünglich wohlmeinender und wohlgemeinter Selbstfürsorge und Bestreben nach Selbstbestimmung und Selbstentfaltung entwickelt sich die teuflische Abhängigkeit von Selbstversklavung durch Fremdbestimmung. Wenn dieses Streben zu einem unaufhörlichen Wettlauf gegen sich selbst und andere führt, gerät der Einzelne in eine Spirale der Rast- und Ruhelosigkeit, in den Teufelskreis einer sich selbstbeschleunigenden Stressspirale. Der Mensch wird zum Objekt seiner eigenen Optimierungssucht und verfehlt dabei das, was er eigentlich sucht: Ein erfülltes und sinnstiftendes Leben in der Pflege und Entfaltung seiner menschlichen Potenziale im Gleichgewicht und in der Harmonie seiner sozialen Identität und Umwelt unter Vermeidung von Entfremdung.
Wohlstand und Erfolg als erstrebenswerte Lebensziele: Ein Großteil der modernen Gesellschaft definiert Erfolg und Erfüllung über materiellen Wohlstand. Geld und Besitz werden zum Maßstab für persönliches Glück und gesellschaftlichen Status. Dieses Streben nach materiellem Reichtum führt jedoch dazu, dass andere Werte in den Hintergrund treten. Der sich steigernde Konsum als Symbol für Erfolg erzeugt jedoch eine Art ‚Leere des Überflusses‘ und der ‚Leere im Überfluss‘ als Äquivalent zur ‚Einsamkeit und Isolation in der Massengesellschaft‘. Man erlangt kurzfristiges Glück, jedoch kein tiefergehendes Glück. Es ist die endlose Jagd nach einer Illusion.
Persönliche Effizienz und Leistungssteigerung als Werte in der postkapitalistischen Gesellschaft: In der postkapitalistischen Gesellschaft ist Effizienz das oberste Gebot. Zeit ist Geld, und das Ziel besteht darin, jede Minute des Tages bestmöglich zu nutzen und auszunutzen. Arbeitsprozesse werden optimiert, menschliche Interaktionen werden rationalisiert und selbst Freizeitaktivitäten werden nach Effizienzgesichtspunkten organisiert und strukturiert. Eltern ‚kümmern‘ sich nicht mehr um ihre Kinder, nein, sie verbringen ‚Quality Time‘ mit ihnen. Dies führt jedoch nicht zur Verbesserung z.B. der Eltern-Kind-Beziehung, sondern oft zu Stress und Zeitmangel. Anstatt sich entspannen zu können und Freude am Moment mit den Kindern zu empfinden, fühlen sich die Eltern wie Maschinen, die ständig ehr leisten müssen, um sich selbst und die Erwartungen der Gesellschaft zu erfüllen. Diese Wertvorstellungen stehen im Widerspruch zu den menschlichen Grundbedürfnissen allgemein und denen der Kinder im Besonderen, welche man mit Ruhe, Muße und Pflege und Vertiefung der zwischenmenschlichen Bindungen benennen kann.
Gesellschaftlicher Zerfall und Sinnkrise als Folgeerscheinungen: Dies alles führt zu einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Zerfall und einer weitverbreiteten Sinnkrise. Die kapitalistische Struktur, die all diese Tendenzen antreibt, schafft eine Welt, in der jeder Einzelne für sich selbstkämpft und das Gefühl der Zusammengehörigkeit verloren gehen lässt. Das ständige Streben nach Selbstverwirklichung, Erfolg und Optimierung all seinen Facetten führen in eine innere Leere. Das System verspricht Glück, liefert jedoch häufig nur Entfremdung und Erschöpfung.
Die Frage ist letztlich, wie wir ein Leben gestalten, das nicht nur auf der Verwirklichung individueller Ziele beruht, sondern auf einem gemeinschaftlichen Sinn und einem respektvollen Miteinander. Eine Spaltung in ‚die da oben‘ und ‚die da unten‘ darf es nicht geben. Eine Überwindung der Spaltung, der Sinnkrise und des gesellschaftlichen Zerfalls wird dann möglich, wenn wir uns wieder als soziale Wesen begreifen, deren Streben es ist, in Selbstverantwortung und Selbstvorsorge ein authentisches Leben zu führen, dessen nicht allein auf den Maßstäben der kapitalistischen Leistungsgesellschaft basiert. Eine Balance zwischen Individualität und Gemeinschaft, zwischen Selbstentfaltung und sozialer Verantwortung könnte der Schlüssel sein, um der postkapitalistischen Gesellschaft eine neue Sinnhaftigkeit zu verleihen, eine Sinnhaftigkeit, zu der sich die Bürger bekennen mögen.
Inspiration: Arienne Braun: Nett zu sein lohnt sich. In: Beilage Leben. Am Wochenende. vrm., vom 9.11.2024
Bilder: KI-generiert, ChatGPT
Texte zur Zeitenwende
- Zeitenwende VII: Die Bedeutung von Individualisierung, Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung in der fundamentalen Krise der bürgerlich-postkapitalistischen Massengesellschaft
- Zeitenwende VI: Die Krise um VW als Menetekel für Deutschland
- Zeitenwende V: Krisenbewusstsein und Bewusstsein in der Krise: Eine systemische und massenpsychologische Betrachtung
- Zeitenwende IV: Auslagerung von Familienleistungen durch Individualisierung und Fragmentierung der Gesellschaft
- Zeitenwende III – Der Zerfall der Familienstrukturen in der postindustriell – kapitalistischen Gesellschaft
- Zeitenwende II – Der überbordende Versorgungsstaat nimmt den Menschen Freiheit und Selbstbestimmung
- Zeitenwende I – Die Überbehütung der Kinder in der postindustriellen kapitalistischen Überflussgesellschaft