Krisenbewusstsein und Bewusstsein in der Krise: Eine systemische und massenpsychologische Betrachtung

In Zeiten fundamentaler Krisen durchlaufen Massengesellschaften oft tiefgreifende Veränderungen, die sich nicht nur in politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen äußern, sondern auch in den Bewusstseinsprozessen der Individuen und der Gemeinschaften.

Krisen – seien es Kriege, Pandemien oder ökologische Katastrophen – zwingen die Gesellschaft, alte Überzeugungen und Strukturen zu hinterfragen und sich neu zu orientieren. Die Frage ist, wie laufen solche kollektiven Bewusstseinsveränderungen ab und wie reagieren Systeme und Individuen darauf.

Bewusstseinsprozesse im Kontext einer Massengesellschaft: Die Massengesellschaft zeichnet sich durch eine hohe Bevölkerungsdichte, komplexe soziale Strukturen und trotz einer starken Fragmentierung durch eine enge Vernetzung aus. In einer solchen Gesellschaft sind die Bewusstseinsprozesse stark von der Interaktion und Kommunikation zwischen Individuen geprägt. In Zeiten von Krisen werden diese Prozesse beschleunigt und intensiviert, da die Bedrohungslage und Unsicherheiten zu einer kollektiven Suche nach Orientierung führen.

Individualbewusstsein vs. Kollektivbewusstsein: In der Massenpsychologie wird häufig zwischen dem Individualbewusstsein und dem Kollektivbewusstsein unterschieden. Während das individuelle Bewusstsein in erster Linie auf persönliche Erfahrungen, Überzeugungen und Werte zurückgreift, ist das Kollektivbewusstsein durch geteilte Normen, Glaubenssysteme und kulturelle Werte geprägt. In Krisenzeiten verschiebt sich das Verhältnis dieser beiden Bewusstseinsebenen, da Individuen häufig ihre persönlichen Überzeugungen zugunsten des Kollektivbewusstseins zurückstellen. Dies geschieht oft, weil die Krisen einen gemeinsamen Feind oder eine geteilte Bedrohung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, wodurch ein Gefühl von Solidarität und kollektiver Identität entsteht.

Während der Covid-Pandemie wurden temporär viele persönliche Freiheiten eingeschränkt, haben viele Menschen freiwillig darauf verzichtet, einige haben sich gefügt, nur wenige begehrten auf. So konnte im Großen und Ganzen gesehen den Anforderungen der Bekämpfung des Virus nachgekommen werden. Diese Bereitschaft zur Anpassung des individuellen Verhaltens zugunsten des Gemeinwohls zeigt, wie Krisen das kollektive Bewusstsein verstärken können.

Systemische Perspektiven auf Krisen und Bewusstseinsänderungen: Die systemische Sichtweise betont, dass Gesellschaften als dynamische, komplexe Systeme betrachtet werden können, die auf interne und externe Störungen reagieren. Eine fundamentale Krise stellt eine solche Störung dar und zwingt das System, sich neu zu organisieren oder sogar zu transformieren. Bewusstseinsprozesse spielen eine zentrale Rolle in diesem Anpassungsprozess.

Selbstorganisation und Anpassungsfähigkeit: In der systemischen Theorie wird davon ausgegangen, dass soziale Systeme über die Fähigkeit zur Selbstorganisation verfügen. In Krisenzeiten müssen diese Systeme flexibel auf neue Gegebenheiten reagieren, um zu überleben. Die Krise fungiert dabei als Katalysator für Veränderungen im Bewusstsein der Individuen und Gruppen. Alte Denkmuster, die sich im Normalzustand bewährt haben, werden in Frage gestellt, und neue, an die Krise angepassten Muster entstehen.

Emergenz neuer Strukturen und Werte: Ein zentraler Aspekt der systemischen Betrachtung ist das Phänomen der Emergenz. In Krisenzeiten entstehen oft neue soziale Strukturen und Werte, die das kollektive Bewusstsein verändern. Diese neuen Strukturen und Werte können nach der Krise bestehen bleiben und zur dauerhaften Transformation der Gesellschaft führen.

So kam es nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts in vielen Staaten Europas zu einer Neubewertung von sozialen Werten wie Gleichheit, Demokratie und Solidarität. Die Krisen hatten ein kollektives Bewusstsein für die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit und sozialer Gerechtigkeit geschaffen. Die bundesrepublikanischen Antworten waren die Schaffung eines gemeinansamen Europas nach außen und die Etablierung der Sozialen Marktwirtschaft im Inneren.

Massenpsychologische Mechanismen in Zeiten fundamentaler Krisen: Die Massenpsychologie untersucht das Verhalten von Individuen innerhalb von großen sozialen Gruppen, insbesondere in Krisensituationen. In solchen Zeiten greifen häufig bestimmte psychologische Mechanismen, die das kollektive Bewusstsein beeinflussen und die Art und Weise verändern, wie Massen auf Ereignisse reagieren.

Angst und Unsicherheit als Triebkräfte: Krisen erzeugen Unsicherheit und existenzielle Bedrohungen, die bei den betroffenen Individuen zu Angst führen. Diese kollektive Angst kann zu verschiedenen Reaktionen führen, die von Panik und irrationalem Verhalten bis hin zu Solidarisierung und erhöhter Konformität reichen. In einer Massengesellschaft kann diese kollektive Angst zur Verstärkung von Gruppendynamiken führen, die das individuelle Handeln dominieren.

Verstärkung von Autorität und Führungsfiguren: In Zeiten der Unsicherheit neigen Massen dazu, sich verstärkt auf Figuren zu verlassen, die Autoritäten und Führungskompetenz ausstrahlen. Diese können als Orientierungspunkte dienen, da sie einfache Lösungen oder Schutz versprechen. Die Krisensituation erscheint komplex, die Führungsfiguren bieten Lösungen an, die stark reduziert und somit einprägsam sind und überzeugend scheinen. Sie werden im Sinne einer Entlastung und Übergabe von Selbstverantwortung nur allzu bereitwillig angenommen.

Führerpersönlichkeiten, die eine klare Richtung vorgeben, können das Kollektivbewusstsein stark prägen und dadurch sowohl positive als auch negative Entwicklungen anstoßen. Dies birgt die Gefahr, dass autoritäre Strukturen gestärkt werden und Demokratie und individuelle Freiheiten in den Hintergrund geraten.

Historisch betrachtet haben viele autoritäre Regime ihren Aufstieg in Krisenzeiten erlebt, die die Bevölkerung in ihrer Unsicherheit nach starker Führung, nach einem starken Führer verlangte. Ein prominentes Beispiel ist der Aufstieg des Faschismus in Deutschland und Europa nach der Weltwirtschaftskrise. Auch gegenwärtig erlebt man eine Wiedererstarkung autoritärer Tendenzen in Europa vor dem Hintergrund der geopolitischen Veränderungen.

Massenhysterie und Polarisierung: Ein weiterer massenpsychologischer Mechanismus in Krisenzeiten ist die Tendenz zur Polarisierung. In Krisensituationen suchen Menschen oft nach einfachen Erklärungen und Schuldigen, was zu einer starken Polarisierung innerhalb der Gesellschaft führen kann. Dies manifestiert sich in der Bildung von ‚Wir-gegen-die Anderen‘-Narrativen, in denen bestimmte Gruppen oder Institutionen für die Krise verantwortlich gemacht werden. Diese Polarisierung kann das Kollektivbewusstsein nachhaltig spalten und zu langanhaltenden gesellschaftlichen Konflikten führen.

So gab es während der Covid-Pandemie in vielen ‚Gesellschaften eine Polarisierung zwischen Befürwortern und Gegnern von Maßnahmen wie Lockdowns und Impfpflicht. Diese Spaltung hat in vielen Ländern das Vertrauen in die Regierung und in wissenschaftliche Institutionen geschwächt und irrationale Narrative in Form von Verschwörungstheorien hervorgebracht. Stichworte hier sind Aluhüte, Chemtrails und Bevölkerungsaustausch.

Wege zur Bewältigung kollektiver Krisen und Bewusstseinsveränderungen: Um die negativen Auswirkungen von Krisen auf das kollektive Bewusstsein zu minimieren und den Übergang zu einer neuen gesellschaftlichen Ordnung zu erleichtern, müssen sowohl politische als auch soziale Maßnahmen ergriffen werden.

Förderung von Resilienz: Eine resiliente Gesellschaft ist in der Lage, Krisen zu bewältigen und gestärkt daraus hervorzugehen. Dies erfordert ein Bewusstsein für die eigene Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Die Politik kann durch Bildung, soziale Sicherheit und Förderung von Solidarität dazu beitragen, dass Individuen und Gruppen in der Lage sind, Krisen besser zu durchstehen.

Dialog und Kommunikation: In Krisenzeiten ist es entscheidend, den gesellschaftlichen Dialog zu fördern. Transparente Kommunikation und die Einbeziehung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in Entscheidungsprozesse können helfen, Polarisierungen zu überwinden und ein Gefühl von Zusammengehörigkeit zu stärken.

Langfristige Perspektiven entwickeln: Krisen sind oft der Auslöser für tiefgreifende Transformationen. Es ist daher wichtig, dass das kollektive Bewusstsein nicht auf kurzfristige Überlebensstrategien ausgerichtet ist, sondern auch eine langfristige Perspektive entwickelt. Dies kann durch eine bewusste Auseinandersetzung mit neuen Werten und sozialen Strukturen geschehen, die nach der Krise Grundlage für eine neue gesellschaftliche Ordnung bilden.

Fazit: Bewusstseinsprozesse in einer Massengesellschaft in Zeiten fundamentaler Krisen sind komplex und vielschichtig. Sowohl aus systemischer als auch aus massenpsychologischer Sicht zeigt sich, dass Krisen tiefgreifende Veränderungen im kollektiven Bewusstsein hervorrufen können. Während systemische Ansätze betonen, dass Krisen zu einer Neustrukturierung und Selbstorganisation führen, lenkt die Massenpsychologie den Blick auf die psychologischen Mechanismen, die in der Gruppe wirksam werden. Um Krisen erfolgreich zu bewältigen und das kollektive Bewusstsein in positive Bahnen zu lenken, sind Resilienz, Dialog und langfristiges Denken von entscheidender Bedeutung.

Quellen: