Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) wird die Abläufe in fast allen Bereichen unseres Lebens grundlegend verändern. Insbesondere in dem Bereich der Datensammlung, deren Analyse und Interpretation eröffnen neue Möglichkeiten, die sowohl das Erkenntnis- als auch das Tätigkeitsspektrum erweitern. Neue Instrumente bringen neue Prozesse hervor, diese erfordern neue Fertigkeiten und neue Qualifikationen.
An einem (fiktiven) ‚Fall aus der Praxis‘ kann dargestellt werden, wie sich eine konkrete Situation verändern kann.
Fallbeschreibung
Lena ist 28 Jahre alt und arbeitet als Grafikdesignerin in einem mittleren Unternehmen. Seit ihrer Jugend leidet sie unter sozialer Angst (Soziale Phobie – ICD 11 6B04), die sich in bestimmten sozialen Situationen äußert. Insbesondere bei der Interaktion mit unbekannten Menschen, beim Halten von Präsentationen oder bei Aufforderungen zu persönlichen Beiträgen und Stellungnahmen in Meetings verspürt sie starke Angst, insbesondere davor, von anderen negativ beurteilt zu werden. Diese Angst führt zu körperlichen Symptomen wie Herzklopfen, Schweißausbrüchen und Zittern. Um diese Situationen zu vermeiden, zieht sich Lena zunehmend zurück, was sich negativ auf ihre berufliche Entwicklung und ihre sozialen Beziehungen auswirkt.
Trotz mehrerer Versuche, sich Hilfe zu suchen, fühlte sie sich in traditionellen Therapieansätzen oft überfordert und erlebte keine signifikante Verbesserung. Auf Empfehlung eines Bekannten entschloss sich Lena, eine psychotherapeutische Behandlung zu beginnen, die durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) unterstützt wird.
Therapieansatz
Die Therapie kombiniert klassische kognitive Verhaltenstherapie (KVT) mit einer KI-gestützten App und einem tragbaren Sensorgerät, sogenannte Wearables. Die KI analysiert Lenas physiologische und emotionale Reaktionen in Echtzeit und hilft dabei, ihre sozialen Ängste besser zu verstehen und zu bewältigen.
Erste Sitzung und Diagnose
In der ersten Sitzung trifft sich Lena mit ihrem Therapeuten, um ihre Ängste genauer zu besprechen. Während der Sitzung trägt sie ein Sensorarmband, das ihre Herzfrequenz, Hautleitfähigkeit und Atemfrequenz misst – alles physiologische Indikatoren für Stress und Angst. Die von der KI aufgezeichneten und analysierten Daten zeigen deutlich, dass Lenas Angstzustände ansteigen, und das bereits in Gesprächen über alltägliche Dinge. Dies ist ein Hinweis auf eine tiefe Verwurzelung ihrer sozialen Ängste.
Die KI hilft dabei, Muster in Lenas Angstreaktionen zu identifizieren, z.B. dass ihre Herzfrequenz besonders in Momenten steigt, in denen sie über bevorstehende soziale Situationen im beruflichen Bereich spricht. Durch diese Daten erhält der Therapeut eine objektive Grundlage, um Lenas Zustand besser zu verstehen und gezielte Interventionen zu planen.
Expositionsübungen mit KI-Unterstützung
Ein wesentlicher Bestandteil der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) bei sozialer Angst ist die schrittweise Exposition gegenüber angstauslösenden Situationen, auch Konfrontationstherapie genannt. Lena nutzt dabei eine KI-basierte App, die simulierte Szenarien durch Virtual Reality (VR) anbietet. Zunächst beginnt sie mit milden Szenarien, wie einem Smalltalk mit einem virtuellen Kollegen. Die App überwacht dabei kontinuierlich ihre physiologischen Reaktionen und analysiert, wann und in welchen Situationen die Angst am stärksten auftritt.
Die KI hilft Lena auch, ihre Fortschritte zu verfolgen, indem sie Feedback in Echtzeit gibt. Wenn ihr Herzfrequenz beispielsweise über einen bestimmten Schwellenwert steigt, schlägt die App Atemtechniken vor, um den Stress zu senken. Gleichzeitig wird der Therapeut über die App über Lenas Fortschritte informiert, sodass in den wöchentlichen Sitzungen gezielt auf die angstauslösenden Situationen eingegangen werden kann.
Personalisierte Interventionen
Basierend auf den gesammelten Daten und Lenas Fortschritten erstellt die KI personalisierte Therapiepläne. So erkennt das System z.B., dass Lena bei öffentlichen Präsentationen besonders starke Angst empfindet. Daher schlägt die KI vor, den Fokus der Konfrontationsübungen auf diese Situationen zu legen. Die App bietet spezifische Übungen an, die Lena schrittweise in das Präsentieren einführen – angefangen bei der Präsentation vor einer kleinen Gruppe virtueller Avatare bis hin zu einem vollen Raum.
Zusätzlich empfiehlt die KI gezielte Entspannungstechniken vor und nach diesen Übungen, wie Atemübungen oder Achtsamkeitsmeditationen, die ebenfalls in der App angeboten werden.
Zwischenmenschliche Interkation im Alltag
Die KI-App unterstützt Lena auch im Alltag. Wann immer Lena merkt, dass eine soziale Situation bevorsteht, die bei ihr Angst auslösen könnte – z.B. ein Meeting im Büro – kann sie die App aktivieren. Die KI erkennt über das tragbare Sensorgerät, wenn Lenas Herzfrequenz steigt, und gibt ihr personalisierte Tipps zur Stressbewältigung, etwa beruhigende Atemübungen oder positive Selbstaffirmationen.
Durch regelmäßige Rückmeldungen in der Apperkennt Lena, wann und warum ihre sozialen Ängste ausgelöst werden. Dies gibt ihr ein tieferes Verständnis für ihr Angstmuster und hilft ihr, effektiver mit ihrer Angst umzugehen. Lena gewinnt an Selbstwirksamkeit, Selbstkontrolle und Selbstbewusstsein.
Vieles mag an Interventionen im Bereich des Biofeedbacks erinnern, und das ist auch richtig so. KI ist ein Hilfsmittel, eine Unterstützung, ein neues Tool und ist nicht die Neuerfindung des Rades.
Langfristige Nachverfolgung und Anpassung der Therapie
Die KI begleitet Lena über den gesamten Therapieprozess hinweg und wertet ihre Fortschritte aus. Anhand der gesammelten Daten erkennt das System, dass Lenas Angst in alltäglichen Situationen wie Smalltalk oder Meetings allmählich abnimmt, während bei größeren Präsentationen weiterhin eine erhöhte Stressreaktion auftritt. Gemeinsam mit dem Therapeuten werden die Übungen deshalb angepasst, um stärker auf diese Situation einzugehen.
Die KI ermöglicht auch eine langfristige Nachverfolgung nach Abschluss der Therapie. Sollte Lena wieder vermehrt Anzeichen von Stress in sozialen Situationen zeigen, gibt die App entsprechende Warnungen und schlägt Auffrischungsübungen vor, um einem Rückfall in die soziale Angst vorzubeugen.
Ergebnisse
Nach sechs Monaten spürt Lena eine deutliche Besserung ihrer sozialen Ängste. Sie ist in der Lage, an Meetings und Präsentationen teilzunehmen, ohne dass ihre Angst sie lähmt. Die kontinuierliche Überwachung und personalisierten Rückmeldungen der KI haben ihr geholfen, sich ihrer Angstmuster bewusst zu werden und effektive Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Auch die Zusammenarbeit mit ihrem Therapeuten wurde durch die objektiven Daten der KI unterstützt, da sie gezielt auf Lenas individuelle Herausforderungen eingehen konnte.
Fazit
In diesem Fallbeispiel zeigt sich, wie der Einsatz von Künstlicher Intelligenz in der Psychotherapie zur Behandlung nicht nur sozialer Ängste effektive und personalisierte Unterstützung bieten kann. Durch die Kombination von sensorbasierten Daten und deren Analyse, Virtual-Reality-Expositionen und Echtzeit-Feedback wird der therapeutische Prozess optimiert und auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten. KI kann dadurch nicht nur die Wirksamkeit der Therapien erhöhen, sondern auch die Selbstwirksamkeit und das Selbstbewusstsein der Patienten stärken, was mittel- und langfristig zu einem stabileren und gesünderen Umgang mit sozialen Ängsten führt.
Quellen
https://ängste.info/soziale-phobie-icd-11
ängste.info https://ängste.info/soziale-phobie-icd-11
https://www.netdoktor.de/krankheiten/phobien/soziale-phobie
Bilder: www.freepik.com