Wann gerät das sexuelle Verhalten außer Kontrolle?

Einleitung

Wir leben in einer Zeit, in der Sexualität allgegenwärtig ist. Von Werbeplakaten über Filme bis hin zu den sozialen Medien – überall begegnet uns Sex. Es scheint, als sei unsere Gesellschaft besessen von der Darstellung und Vermarktung des Körpers, getrieben von einer unersättlichen Gier nach visueller und emotionaler Stimulation. Doch was sagt das über uns aus? Sind wir wirklich so frei und aufgeschlossen, wie wir glauben?

Sexualität und Gesellschaft
Sexualität und Gesellschaft

Der erste Gedanke, der einem kommt, wenn man über unsere sexualisierte Gesellschaft nachdenkt, ist die Freiheit. Sexuelle Revolution, LGBTQ+-Rechte, offene Beziehungen – das sind alles Zeichen dafür, dass wir uns von den Ketten konservativer Moralvorstellungen befreit haben. Doch während wir uns auf die Fahne schreiben, emanzipiert und aufgeklärt zu sein, ist die Frage, ob wir uns wirklich befreit oder uns nur neuen Zwängen unterworfen haben.

Freiheit und Unsicherheit

Die allgegenwärtige Sexualisierung ist nicht nur ein Zeichen von Freiheit, sondern auch ein Symptom einer tief verwurzelten Unsicherheit. Warum fühlen wir uns so gezwungen, unsere Sexualität zur Schau zu stellen? Ist es wirklich ein Ausdruck unseres wahren Selbst, oder haben wir das Bedürfnis, uns in einem ständigen Wettbewerb zu beweisen, wer emanzipierter, liberaler oder libertärer, wer sexuell attraktiver und aktiver ist.

Ein weiteres Problem ist die Vermischung von Sexualität mit Konsum. Sex sells – Sex verkauft sich – das ist kein Geheimnis. Doch in einer Welt, in der alles, einschließlich unserer Körper, zur Ware gemacht wird, verlieren wir den Blick für das Wesentliche. Sex wird entmystifiziert, trivialisiert und reduziert auf einen Akt, der allein dem Konsum und der Unterhaltung dient. In diesem Kontext wird Intimität zur Mangelware. Statt tiefer, erfüllender Verbindungen, die auf Vertrauen und gegenseitigem Respekt basieren, erleben wir eine Kultur der Belanglosigkeit, in der Menschen wie Waren behandelt werden.

Jugend in einer sexualisierten Gesellschaft

Doch die vielleicht beunruhigendere Frage ist: Was bedeutet diese allgegenwärtige Sexualisierung und Erotisierung für unsere Jugend? Kinder und Jugendliche wachsen in einer Welt auf, in der Sexualität nicht nur allgegenwärtig, sondern oft auch verzerrt und

In den sozialen Medien werden Körperideale propagiert, die unerreichbar sind, während Pornografie leicht zugänglich ist und oft ein einseitiges, unrealistisches Bild von Sexualität vermittelt. Wir laufen Gefahr, eine Generation zu formen, deren Vorstellungen von Sexualität und Erotik durch unrealistische, verzerrte und oft destruktive Medienbilder geprägt sind.

Es ist das Maß, das entscheidet

Natürlich wird es Stimmen geben, die sagen, dass Sexualisierung ein natürlicher Bestandteil der menschlichen Kultur ist und dass wir sie als Ausdruck unserer Freiheit feiern sollten. Doch es ist naiv zu glauben, dass die allgegenwärtige Darstellung von Sex und Erotik in unserer Gesellschaft ohne Konsequenzen bleibt. Sie beeinflusst unsere Beziehungen, unser Selbstbild und unsere Fähigkeit, wahre Intimität zu erleben. Vielleicht sollten wir uns weniger darauf konzentrieren, was wir sehen und mehr darauf, was wir fühlen. Weniger darauf, was wir darstellen, und mehr darauf, wer wir wirklich sind und was unsere echten sexuellen und erotischen Bedürfnisse sind.

Sexualität und Gesellschaft
Sexualität und Gesellschaft

Letztlich ist es eine Frage der Balance. Es geht nicht darum, Sexualität zu verteufeln oder zu unterdrücken, sondern darum, sie in einem gesunden, respektvollen Kontext zu leben. Wir müssen uns fragen, ob die Art und Weise, wie wir Sex und Körperlichkeit in unserer Kultur darstellen, wirklich zu mehr Freiheit führt – oder ob sie uns nicht doch tiefer in ein Netz von Unsicherheit, Konsumismus und Oberflächlichkeit verstrickt. In einer Welt, in der alles sexualisiert ist, ist wahre Intimität vielleicht das Subversivste, was wir erleben können.

Zwei Fälle und die daraus entstehenden Fragen

Es ist immer die Frage, wann ein sexuelles Verhalten außer Kontrolle gerät. Dazu hier zwei Beispiele aus der Praxis.

Ein 30-jähriger Mann kommt wegen einer sozialen Phobie in die Praxis. Auf die Frage, ob es noch andere Anliegen gibt, äußert er schüchtern seine Besorgnis über seinen Pornografiekonsum.

Eine Frau, Mitte 40, sucht den Therapeuten auf, weil sie mit Depressionen kämpft, sucht immer wieder sexuelle Kontakte außerhalb ihrer langjährigen Beziehung. Ihr Ehemann droht, sie zu verlassen, was sie wiederum noch verzweifelter und ratloser über ihr eigenes Verhalten macht.

Handelt es sich bei diesen Patienten um eine Art von Sexsucht? Wie sollte ein Psychotherapeut in solchen Fällen vorgehen? Ist eine Überweisung zu einem 12-Schritte-Programm für Sexsucht die richtige Wahl? Welche anderen Optionen gibt es? Ist eine Diagnose – geschweige denn eine Behandlung – überhaupt möglich oder angemessen?

Der 30-jährige Mann könnte beruhigt werden, dass der Konsum von sexuell expliziten Medien und selbstständige sexuelle Aktivitäten nicht von Natur aus schädlich oder problematisch sind. Wenn sie zum Vergnügen und zur Freude genutzt werden, führen sie nicht zu Problemen beim Sex mit Partnern oder zu sexuellen Funktionsstörungen. Ihn darauf zu beraten, sich auf soziale Kontakte und Lebensziele zu konzentrieren, anstatt auf Pornografie, könnte alles sein, was nötig ist.

Die zweite Patientin benötigt wahrscheinlich intensivere Behandlung, einschließlich medikamentöser Therapie ihrer Stimmung und Überweisung zu einem zertifizierten Sexualtherapeuten mit Erfahrung in der Arbeit mit außer Kontrolle geratenem Sexualverhalten. Bei einem Folgebesuch sollte sie idealerweise weniger Scham empfinden, mehr Autonomie haben, sich ihren Werten näher fühlen und die Vereinbarungen in ihrer Beziehung einhalten, ohne ihre sexuellen Bedürfnisse zu opfern.

Quelle:

When Is Sexual Behavior Out of Control? – Medscape – 31. Juli 2024.

Bilder: freepik