Fallstudie: Herr G. und Samuel Becket.

(Samuel Beckett war ein irischer Schriftsteller, der für seine Theaterstücke wie zum Beispiel „Warten auf Godot“ bekannt ist, ein Drama, mit dem der Night-Talker Harald ‚Dirty Harry‘ Schmidt seine Schauspielerkarriere krönte. Samuel Beckett lebte lange in Frankreich und schrieb in englischer und französischer Sprache.)

Fallstudie: Vorbemerkung: Herr G. fühlt und sieht sich als totaler Versager. Herr G. ist 34 Jahre alt, stellt sich bei mir vor, weil er unter Depressionen und Angst- und Panikattacken leidet. Ein- und Durchschlafstörungen tun ein Übriges, um seinen Allgemeinzustand noch weiter zu verschlimmern. Eine eingehende Untersuchung beim Hausarzt, einem Internisten, ergab keine organischen Ursachen. Der Arzt verschrieb ihm ein Antidepressivum, was der Klient mit den Worten kommentiert: Das tun sie alle.

Erstgespräch: Nach einigen Fragen meinerseits nach aktuellem Befinden und Schwerpunkten seines Leidensdrucks möchte ich die Schwere des Gesprächs etwas mildern und greife seine Äußerung ‚Das tun sie alle‘ wieder auf. ‚Cosi fan tutte‘ heißt auch eine Mozart-Oper warf ich ein. ‚Was hat das mit mir zu tun?‘, war die Antwort. ‚Nun, vielleicht führt uns ein Sprichwort oder ein Bonmot mal zu einem anderen Blick auf die Situation,‘ war nun meine Replik. ‚Dann lassen wir die Oper und kommen zum Drama. Ein Satz von Samuel Becket scheint meine Lage treffender zu beschreiben: ‚Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.‘  ‚Woher haben Sie das?‘  ‚Von Beckett. Zumindest zitiert es Ferdinand von Schirach in seinem Band ‚Nachmittage‘ so.‘   ‚Ok,‘ sage ich, ‚wollen wir das als Ausgangspunkt unserer weiteren Gespräche nehmen?‘  ‚Ja, aber ich möchte Ihnen vorher etwas geben, das können Sie für unsere nächste Sitzung einmal durchlesen. Aber nur, wenn Sie wollen.‘  ‚Natürlich möchte ich. Alles, was Sie selbst einbringen, ist von größter Bedeutung.‘  Er gab mir einige DIN-A-4 Blätter, handgeschrieben. Wir vereinbarten den Folgetermin, und ich begann gleich nach der Verabschiedung zu lesen.

‚Ich sitze allein in meiner Küche, die Wanduhr tickt. Es ist tief in der Nacht, der Raum in ein mattes, schummriges Licht getaucht. Ich blicke auf meine Hände, noch zittrig und etwas taub von den letzten Stunden, der Anspannung und Müdigkeit, die langsam von mir abfällt. Der Bildschirm meines Laptops ist schwarz, die Arbeit des Tages beendet. Der Gedanke an all die Mühe, die Rückschläge und die vergeblichen Versuche schnürt mir dennoch kurz die Kehle zu. ‚Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.‘ Samuel Becketts Worte hallen durch meinen Kopf. Ich weiß nicht genau, wann sie mir erstmals begegnet sind, aber sie sind seitdem wie ein leises Mantra geblieben, das immer wieder auftaucht, wenn die Dinge scheitern, wenn der Boden wankt und ich doch stehenbleiben muss.

Es begann vor ein paar Jahren. Ich hatte große Pläne, ein Projekt, das in meinem Kopf perfekt aussah, mit all den Details, die ein harmonisches Gesamtbild ergeben sollten. Ich war mir sicher, dass es funktionieren würde. Es war schließlich logisch, durchdacht, ein Plan, der nur Erfolg bringen konnte. Doch kaum war ich gestartet, begann das Projekt zu bröckeln. Die Fehler traten zuerst klein und unbemerkt auf, wie Haarrisse, die im Mauerwerk entstehen und sich dann ausbreiten, bis sie plötzlich klaffen und die Struktur zum Wanken bringen.

Die erste Niederlage war schmerzhaft. Ich fühlte mich wie ein Versager, mein Stolz war tief gekränkt, und die Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu. Ich dachte, vielleicht lag es an mir, an meiner Unfähigkeit. Also begann ich, mich zu hinterfragen, alles in Frage zu stellen. Ich arbeitete und arbeitete, ich scheiterte und scheiterte.‘

Herr G. und die Kunst des besseren Scheiterns: Herr G., ein Mann Mitte 30, sitzt mir gegenüber, die Schultern leicht nach vorne gezogen, der Blick unsicher und doch mit einer gewissen Entschlossenheit, die man erst nach längerem Zögern erkennt. Er ist seit einigen Wochen in Therapie, aber er verspürt kein Fortkommen. So wechselt er nach den üblichen fünf probatorischen Sitzungen und kommt zu mir. Nach der fünften Sitzung frage ich ihn, ob er die Arbeit mit mir fortsetzen möchten. Er möchte.

Die Sitzungen beginnen immer ähnlich: Herr G. schildert mit leiser Stimme die vielen ‚Fehltritte‘, wie er sie nennt, die er in seinem Leben erfahren und getan hat.

Ich habe schon so viel versucht, immer wieder. Es war, als würde ich in einem Kreislauf feststecken,‘ sagt er und seufzt, während er die Hände ineinander verschränkt.

Seine Geschichte ist geprägt von Aufbrüchen, neuen Projekten, und immer wieder von dem Gefühl, versagt zu haben. Er sieht und fühlt sich als totaler Versager.

Seinen Job als junger Berater hat er bereits zweimal gewechselt, weil er sich jedes Mal von Kollegen überfordert und von den Erwartungen erdrückt fühlte. Auch privat gab es immer wieder Anläufe, Beziehungen aufzubauen, die jedoch nach kurzer Zeit im Streit und schließlich im Rückzug endeten.

Ich frage Herrn G., was ihn dazu bewegt, dennoch weiterzumachen – was ihn nach jedem Scheitern wieder aufstehen lässt. Zögerlich erzählt er, dass er oft an Becketts Worte denken muss: ‚Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.‘

Anfangs, so gesteht er, habe ihn dieser Gedanke gereizt und gleichzeitig abgeschreckt. Das Wort ‚scheitern‘ stand für ich für absolute Niederlage, für den Verlust von Kontrolle und Selbstwertgefühl. Aber die Idee, ‚besser‘ zu scheitern, erschien ihm auf seltsame Weise tröstlich.

In den letzten Sitzungen haben wir daran gearbeitet, dieses Konzept für ihn greifbarer zu machen. Ich habe ihn ermutigt, nicht mehr in absoluten Begriffen von Erfolg und Misserfolg zu denken, sondern den Prozess des Scheiterns differenziert zu betrachten. Anstatt den Fokus auf das Endergebnis zu legen, haben wir uns die kleinen Schritte, das Erleben und die Veränderungen angeschaut, die er auf dem Weg gemacht hat.

Zum Beispiel sprach Herr G. von seinem letzten Jobwechsel. Früher hätte er den Umstand, dass er die Position nicht länger als ein Jahr hielt, als endgültiges Scheitern empfunden. Doch heute kann er zurückblicken und erkennen, dass er in diesem Jahr wichtige Kompetenzen entwickelt hat, die ihn in seiner neuen Position weiterbringen. Er merkt, dass das vermeintliche ‚Scheitern‘ oft wertvolle Lektionen bereithält, die ihn widerstandsfähiger und flexibler machen.

In einer unseren letzten Sitzungen machte Herr G. eine bemerkenswerte Aussage: ‚Ich weiß jetzt, dass es nicht darum geht, jeden Fehler zu vermeiden. Es geht darum, daraus zu lernen, ohne sich davon bestimmen zu lassen.‘  Zum ersten Mal erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht, fast überrascht, dass ihm diese Erkenntnis eine Art Leichtigkeit brachte.

Mit der Zeit ist es Herrn G. gelungen, sich selbst ein bisschen mehr zu akzeptieren – mit all seinen Versuchen und Fehlschlägen. Die Therapie ist für ihn zu einem Raum geworden, in dem er den Wert des Versuchens jenseits des reinen Gelingens entdecken darf. Er hat erkannt, dass das Scheitern selbst Teil einer persönlichen Weiterentwicklung ist – nicht als Feind, sondern als ein Lehrmeister, der ihm hilft, seine eigenen Grenzen zu akzeptieren und zu erweitern.

Für Herrn G. ist die Therapie eine Art Übungsplatz für Becketts Motto geworden: Er lernt, seine Versuche zu würdigen, selbst wenn sie nicht das erhoffte Resultat bringen. Denn das, was er letztlich erreicht, ist die Fähigkeit, sich mit jedem Fehlversuch neu auszurichten und mit mehr Mut als je zuvor weiterzumachen.

Non tutti fanno cosi.

Inspiration: Ferdinand von Schirach: Nachmittage. Taschenbuchausgabe. Kapitel 13, S. 96., Bilder: KI-generiert. chatGPT