‚Sagen wir es so: Was heute zu kurz kommt, ist die Würdigung der Normalität und des Maßhaltens im besten Sinn. Nicht nur die großen Individualisten tragen die Gesellschaft, es sind all jene, Menschen pflegen, Kinder unterrichten, Kaputtes reparieren und Neues bauen. Es ist völlig in Ordnung, ein mittelmäßiges Leben zu führen. Und alle, die ihren Individualismus zur höchsten Blüte treiben, profitieren von jenen, die es nicht tun. Was heute zu kurz kommt, ist der Gedanke der praktischen und nicht der abstrakten Nächstenliebe.‘
(nach: Daniela Krien, in: Süddeutsche Zeitung v. 9./10. November 2024, Nr. 259. S. 46)
Die Journalistin Silke Wichert interviewt die Autorin Daniela Krien, die u.a. ein Plädoyer dafür hält, was nach Aristoteles als ‚Lehre vom richtigen Maß‘ oder ‚Lehre von der Mitte‘ bekannt ist. Der griechische Philosoph beschreibt das Konzept der Tugend als Mittelweg zwischen Extremen. In seiner Nikomachischen Ethik definiert er Tugend als eine Disposition, die in einer Mitte zwischen zwei Extremen liegt: einem Übermaß und einem Mangel. Die Mitte ist nicht absolut, sondern individuell unterschiedlich, je nach den Umständen und der Natur des Handelnden.

Grundgedanke der Lehre des Aristoteles: Der Philosoph unterscheidet in seiner Tugendlehre zwischen zwei Arten von Tugenden: den ethischen Tugenden, die auf dem Charakter basieren und durch Gewohnheit geformt werden, und den dianoetischen Tugenden, die auf dem Verstand beruhen und durch Lehre erlernt werden. Seine Mesotes-Lehre bezieht sich vor allem auf die ethischen Tugenden und den menschlichen Charakter.
Die Tugend, so Aristoteles, ist eine Mitte, relativ zu uns selbst, den Handelnden, und sie muss dem Gebot der Vernunft folgen.
Ein viel zitiertes Beispiel ist die Tugend der Tapferkeit, die zwischen den Extremen der Feigheit (Mangel an Mut) und Tollkühnheit (Übermaß an Mut) liegt. Das Ziel ist es aber, durch ständige Übung und Selbsterkenntnis einen Zustand der Ausgeglichenheit und Harmonie zu erreichen. Diese Mitte variiert, da sie vom jeweiligen Individuum und den situativen Anforderungen abhängt – es handelt sich also um eine dynamische Tugendlehre, die die Anpassungsfähigkeit, das Verantwortungsbewusstsein und die Verantwortung des Menschen betont. Es bleibt also ausreichend Raum für Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung und Individualität.
Die Relevanz der Lehre in der heutigen spätkapitalistisch-postindustriellen Gesellschaft: In einer Gesellschaft, die geprägt ist von Konsumorientierung, sozialer Ungleichheit und ökologischer Übernutzung, kann die Mesotes-Lehre als Leitfaden für ethisches Verhalten und persönliche Selbstregulation dienen. Die spätkapitalistische Gesellschaft steht vor einer Vielzahl von Krisen – ökologisch Katastrophen, wirtschaftliche Unsicherheit, sozialer Zerfall und eine zunehmende Sinnkrise vieler Menschen. Die Übernahme des Konzepts der ‚Mitte‘ könnte als Antwort auf diese Krisen dienen, indem sie den Menschen zur Mäßigung und zum reflektierten Konsum anregt.
Konsum und Umweltbewusstsein: Der heutige exzessive Konsum, der maßgeblich zur Umweltzerstörung beiträgt, könnte durch eine mesotische Herangehensweise – also das Streben nach einem Maß zwischen Übermaß und Verzicht – gemildert werden. Statt Ressourcen rücksichtslos zu verbrauchen, würde eine Balance zwischen Konsum und Nachhaltigkeit angestrebt, bei der Konsum als ein verantwortungsvoller Akt gesehen wird. In diesem Sinne könnte die Mesotes-Lehre Anreiz bieten, ein Gleichgewicht zu finden, das nicht auf maximalen Genuss oder Kapitalgewinn ausgerichtet ist, sondern auf das langfristige Wohl des Einzelnen und der Umwelt. Die Konsumgesellschaft aber basiert auf einem ständig wachsenden Konsum und der Expansion des Marktes. Maßhalten wird nicht belohnt, sondern oft sogar als Rückschritt betrachtet. Das wirtschaftliche System verlangt ständigen Konsum und Innovationen, die Menschen zu Konsumenten erziehen, für die das Konzept der Mitte wenig Anreiz bietet.
Soziale Ungleichheit und Gerechtigkeit: Die Mesotes-Lehre legt auch eine ethische Grundlage für soziale Gerechtigkeit. In einer Gesellschaft, die zunehmend durch Ungleichheit geprägt ist, erscheint es extrem wichtig, ein Gleichgewicht zwischen exzessivem Reichtum und prekärer Armut zu finden. Die extreme Konzentration von Kapital und Ressourcen in den Händen weniger lässt soziale Spannungen wachsen. Ein Ansatz im Sinne der mesotischen Gerechtigkeit würde soziale Teilhabe und einen gerechten Ressourcenzugang ermöglichen. Dies könnte eine Gesellschaft fördern, in der Solidarität und soziales Verantwortungsbewusstsein zur Norm werden.
Persönliche Verantwortung und Selbstkontrolle: In Zeiten der digitalen Überreizung, permanenter Erreichbarkeit und rasch wachsender Anforderungen an Flexibilität und Selbstoptimierung fühlen sich viele Menschen überfordert. Die Prinzipien des Aristoteles könnten als ethische Prinzipien dienen, die den Menschen zur Mäßigung und zur Balance im Umgang mit sich selbst erzieht. Anstatt einem extremen Leistungsdenken oder einem völligen Rückzug zu verfallen, fordert die Mesotes-Lehre eine Selbstkontrolle, die persönliche Grenzen anerkennt und respektiert. Sie könnte daher als einengend und konservativ empfunden werden, da sie das Individuum dazu anleitet, sich selbst zu begrenzen und eine Mitte zu finden, anstatt extreme Erfahrungen zu erkunden. Diese Einschränkung könnte als unzeitgemäß wahrgenommen werden, da Menschen heute verstärkt versuchen, sich zu optimieren.

Demokratische Werte und politische Stabilität: In einer zunehmend polarisierten Welt könnten die Ideen von Aristoteles als Orientierungsrahmen für einen gemäßigten und rationalen politischen Diskurs dienen. Extremismus und Polarisierung bedrohen die Stabilität vieler Demokratien, und die Suche nach der Mitte könnte helfen, Extrempositionen zu vermeiden und den politischen Dialog zu versachlichen. Die Mesotes-Lehre könnte dem Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt als Maßstab dienen, um den Mittelweg zwischen konträren Positionen zu finden, ohne die demokratischen Werte zu gefährden.
Technologische und digitale Veränderungen: Die aristotelische Lehre der goldenen Mitte basiert auf menschliche Wahrnehmung und Vernunft – einer Vorstellung, die in der digitalen Welt oft schwer umsetzbar ist. Algorithmen, digitale Plattformen und die ständige Erreichbarkeit führen zu einer digitalen Überforderung, bei der die ‚Mitte‘ schwer zu definieren ist. Unsere Interaktionen mit der Technologie fördern extreme Positionen, da soziale Medien beispielsweise oft extremere Standpunkte verstärken und das Streben nach viralem Erfolg die ‚Mitte‘ langweilig erscheinen lässt. In dieser digitalen Umgebung, die auf maximierte Aufmerksamkeit und Profit angelegt ist, können die Vorstellungen der Mäßigung, der Selbstkontrolle und der Selbstbescheidung als überholt erscheinen, da sie keine konkrete Antwort auf die Herausforderungen des digitalen Zeitalters bietet.
Kritik und Herausforderung: Eine Herausforderung der Anwendung der Mesotes-Lehre in der modernen Gesellschaft liegt in der Frage, wie die Mitte definiert wird und wer sie bestimmt. In einer komplexen Welt mit verschiedensten ethischen und kulturellen Perspektiven kann es schwer sein, eine gemeinsame ‚Mitte‘ zu finden. Ebenso könnte eine undifferenzierte Anwendung dazu führen, dass bestehende Machtstrukturen stabilisiert statt hinterfragt werden, wenn Extrempositionen und notwendige Veränderungen pauschal abgelehnt werden.
Die Mesotes-Lehre fordert von Individuen eine hohe Eigenverantwortung und Selbstreflexion, was angesichts heutiger gesellschaftlicher Herausforderungen nicht immer umsetzbar ist. Es gibt auch keine universelle ‚goldene Mitte.: Eine Gesellschaft, die in einem Bereich über das Ziel hinausschießt, muss vielleicht an anderer Stelle extreme Maßnahmen ergreifen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Dennoch bietet die Mesotes-Lehre einen wertvollen Rahmen, der durch individuelle und kollektive Mäßigung eine Ethik der Verantwortung und Balance ermöglichen könnte.
Die Lehre von der Mitte ist eine Einladung, den Weg der Mäßigung zu gehen – ein Weg, der Konsum, Gerechtigkeit, Selbstverantwortung und politischen Diskurs in ein ausgewogenes Verhältnis setzt. Sie könnte helfen, den derzeitigen spätkapitalistisch-postindustriellen Krisenzustand zu lindern und eine nachhaltigere, gerechtere und ausgeglichenere Gesellschaft zu fördern. Sie setzt jedoch mit den Grundsätzen der Mäßigung und Selbstkontrolle eine ideale und stabile Gesellschaft voraus, die weder durch strukturelle Ungleichheit, ökologische Krisen, radikale Individualisierung noch durch technologische Überstimulation geprägt ist, voraus.
Ihre Umsetzung erscheint gegenwärtig realitätsfern in einer Gesellschaft, in einer Welt, in der radikale und innovative Ansätze notwendig zu sein scheinen, die eher auf extremes Handeln als auf das ‚rechte Maß‘ setzen.
Inspiration: Daniela Krien, in: Süddeutsche Zeitung v. 9./10. November 2024, Nr. 259. S. 46). Bilder: KI-generiert/ ChatGPT