Die Heilung ihres inneren Kindes – Annas Weg aus dem inneren Gefängnis

Fallbeispiel: Anna S. Anamnese und Hintergrund der Klientin

 Anna, 32 Jahre alt, ist Lehrerin an einer Grundschule. Sie suchte psychotherapeutische Hilfe, weil sie sich zunehmend „leer“ fühlte und wiederkehrende Panikattacken hatte. Ihr Alltag war von Perfektionismus, starker Selbstkritik und dem Gefühl geprägt, emotional „wie eingefroren“ zu sein. Anna berichtete, dass sie kaum Freude empfand, obwohl sie beruflich erfolgreich war. Ihre Beziehungen, sowohl freundschaftlich als auch romantisch, scheiterten häufig, da sie sich anderen gegenüber nicht öffnen konnte.

In den ersten Sitzungen zeigte sich, dass Anna eine schwierige Kindheit hinter sich hatte. Sie wuchs in einem Haushalt auf, in dem Konflikte vermieden wurden. Ihr Vater war emotional abwesend, die Mutter oft überfordert. Wenn Anna weinte oder Bedürfnisse äußerte, wurde sie als „zu empfindlich“ oder „anstrengend“ abgetan. Diese wiederholten Erfahrungen hatten Anna dazu veranlasst, ihre Gefühle zu unterdrücken und früh „erwachsen“ zu sein. In der Therapie bezeichnete sie dies als ein „inneres Gefängnis“, das sie selbst errichtet hatte, um nicht mehr verletzt zu werden.

Im Laufe der Anamnesearbeit wurde deutlich, dass Anna unter einem tiefen Gefühl der Wertlosigkeit litt. Sie hatte gelernt, dass ihre Bedürfnisse nicht wichtig waren, und entwickelte stattdessen Strategien, um durch Leistung Anerkennung zu gewinnen. Gleichzeitig fühlte sie sich innerlich einsam und isoliert.

Zielsetzung der Therapie

 Der Fokus der Therapie lag auf der Arbeit mit dem „inneren Kind“ nach Stefanie Stahl, um Annas blockierte Emotionen freizulegen und ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Ziel war es, Anna dabei zu helfen, Zugang zu ihrem verletzten inneren Kind zu finden, es zu trösten und sich als Erwachsene selbst zu regulieren.

Therapieprozess: Erste Schritte:

Der Zugang zum inneren Kind

Anna tat sich zu Beginn schwer, den Konzepten des „Sonnenkindes“ (ihrem natürlichen, unbeschwerten Selbst) und „Schattenkindes“ (den schmerzhaften Erfahrungen ihrer Kindheit) Vertrauen zu schenken. Sie empfand die Übungen als ungewohnt und fast „peinlich“. Um diese Hürde zu überwinden, bot die Therapeutin ihr alternative Zugänge an, etwa durch kreative Visualisierungen. Eine Übung bestand darin, sich einen „sicheren Ort“ vorzustellen, an dem sie ihrem jüngeren Ich begegnen könnte.

In einer Sitzung schilderte Anna erstmals ein klares Bild ihres inneren Kindes: ein kleines, schüchternes Mädchen in einem rosa Kleid, das allein in einer dunklen Ecke saß. Dieses Bild war so emotional aufwühlend, dass Anna zunächst in Tränen ausbrach. Die Therapeutin blieb geduldig und bot Halt, indem sie Anna half, die Traurigkeit des Kindes anzuerkennen, ohne sich von ihr überwältigen zu lassen.

Die Auseinandersetzung mit destruktiven Glaubenssätzen:

Ein zentraler Punkt der Arbeit war, Annas tief verankerte Überzeugung zu hinterfragen: „Ich bin nur etwas wert, wenn ich perfekt bin.“ Gemeinsam wurden Situationen analysiert, in denen diese Glaubenssätze entstanden waren. Die Therapeutin half Anna, diese mit liebevollen, realistischen Botschaften zu ersetzen: „Ich darf Fehler machen. Meine Bedürfnisse sind wichtig.“

Dieser Prozess war mühsam, da Anna dazu neigte, in alte Muster zurückzufallen, besonders in stressigen Lebensphasen. Ein wichtiger Durchbruch kam, als Anna in einer Imaginationsübung ihr inneres Kind in den Arm nahm und ihm sagte: „Du bist gut genug, so wie du bist.“ Diese Worte auszusprechen, fühlte sich für sie zunächst ungewohnt, später aber befreiend an.

Umgang mit Widerständen

Ein wiederkehrendes Problem war Annas Widerstand gegen das Gefühl der Verletzlichkeit. Sie äußerte mehrfach, dass sie „nicht in der Vergangenheit leben“ wolle. Diese Abwehrmechanismen wurden respektvoll adressiert. Die Therapeutin erklärte, dass der Zugang zum verletzten Kind nicht dazu diente, Schuldige zu suchen, sondern alte Wunden zu heilen. Es half, dass Anna allmählich erkannte, wie sehr ihre Kindheit ihr heutiges Verhalten beeinflusste.

Integration des Sonnenkindes

Parallel zur Arbeit mit dem Schattenkind wurde das Sonnenkind gestärkt. Anna wurde ermutigt, sich an positive Kindheitserlebnisse zu erinnern und Aktivitäten in ihren Alltag zu integrieren, die ihr Freude bereiteten. Sie begann wieder zu malen, ein Hobby, das sie in ihrer Jugend aufgegeben hatte. Es half ihr, Leichtigkeit zu erleben und sich weniger von ihren Leistungen definieren zu lassen.

Schwierigkeiten in der Therapie

Die Therapeutin stieß mehrfach an ihre Grenzen, insbesondere, wenn Anna in Sitzungen in eine Art emotionale Distanz verfiel. Sie wirkte dann so kontrolliert, dass die Therapeutin sich fragte, ob Fortschritte wirklich nachhaltig waren. Es bedurfte einer behutsamen Balance zwischen Konfrontation und Akzeptanz, um Anna dabei zu helfen, ihre Mauern abzubauen. Zudem war es eine Herausforderung, Annas hohe Ansprüche an die Therapie selbst zu regulieren; sie wollte oft „so schnell wie möglich geheilt“ werden.

Ergebnis und Abschluss der Therapie

 Nach etwa eineinhalb Jahren Therapie berichtete Anna von deutlichen Veränderungen. Sie fühlte sich freier und konnte in belastenden Situationen bewusst mit ihrem inneren Kind in Kontakt treten, anstatt sich von Scham- oder Angstgefühlen überwältigen zu lassen. Ihre Panikattacken hatten nachgelassen, und sie erlebte ihre Beziehungen als tiefer und authentischer.

Der symbolische Abschluss der Therapie war eine Visualisierungsübung, in der Anna ihr inneres Kind in einen sonnigen Garten führte. Sie stellte sich vor, wie das kleine Mädchen fröhlich herumtobte, während ihr erwachsenes Selbst liebevoll auf sie aufpasste. Diese Szene drückte aus, was Anna im Laufe der Therapie gelernt hatte: Selbstfürsorge, emotionale Freiheit und die Kraft, sich selbst zu lieben.

Dieses Fallbeispiel zeigt, dass die Arbeit mit dem inneren Kind ein kraftvolles Instrument sein kann, um alte Wunden zu heilen und das Leben nachhaltig zu verändern – auch wenn der Weg dorthin von Herausforderungen geprägt ist.

Inspiration: