Ein Papier sorgt für Aufsehen – und Kritik. Eine neue Studie, genauer gesagt ein Preprint – also eine noch nicht abschließend begutachtete wissenschaftliche Veröffentlichung – sorgt derzeit für viel Diskussion. Die Autor*innen behaupten darin, dass es unter Fachleuten inzwischen so etwas wie einen Konsens über zentrale Fragen zum Einfluss von Smartphones und sozialen Medien auf die psychische Gesundheit von Jugendlichen gebe.

Doch während dieser vermeintliche Konsens eigentlich zur Versachlichung der öffentlichen Debatte beitragen sollte, hat das Papier in den sozialen Medien das Gegenteil ausgelöst: einen Sturm der Kritik – vor allem von Wissenschaftler*innen, die dem Vorgehen skeptisch gegenüberstehen.

„Viel zu früh für einen Konsens“. Der britische Psychologe Pete Etchells, der an der Bath Spa University zur Wirkung digitaler Technologien forscht, hält die Konsensbildung für verfrüht. Die Forschung sei noch gar nicht so weit, um verlässliche, einheitliche Aussagen zu treffen. Solche Papiere lenkten nur vom eigentlichen Forschungsbedarf ab, so seine Einschätzung.

Auch andere kritisieren: Es fehle schlicht an belastbarer Evidenz, um klare Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein Konsens setze voraus, dass man auf ausreichend gesichertem Wissen aufbaut – und das sei hier nicht der Fall.

Zwischen Konsens und Kontroverse Warum eine neue Studie zu Social Media und Jugendmentalität für Aufregung sorgt
Zwischen Konsens und Kontroverse Warum eine neue Studie zu Social Media und Jugendmentalität für Aufregung sorgt

Was das Forschungsteam erreichen wollte. Hinter dem Projekt stehen der Sozialpsychologe Jay Van Bavel von der New York University und seine Kolleginnen. Sie wollten die Polarisierung in der Debatte über Smartphone-Nutzung bei Jugendlichen überwinden. Während manche Forscherinnen in sozialen Medien eine ernste Bedrohung für die seelische Gesundheit sehen, sprechen andere von einer überzogenen moralischen Panik.

Das Ziel des Papiers sei es gewesen, so Van Bavel, herauszufinden, ob sich eine differenziertere Position finden lasse, die von einer Mehrheit der Fachleute getragen werde.

Der Weg zum Konsens – oder zumindest zur Einigung. Dazu stellte das Team 26 Thesen auf – viele davon inspiriert vom Buch The Anxious Generation des Mitautors Jonathan Haidt. Diese Thesen wurden über mehrere Runden an eine Gruppe geladener „Expert*innen“ geschickt, die sie bewerten sollten – sowohl in Bezug auf ihre persönliche Überzeugung als auch hinsichtlich der vorhandenen wissenschaftlichen Belege.

Die Auswahl der Fachleute war dabei recht offen: Manche wurden gezielt eingeladen, andere fand man durch Recherchen in Google Scholar. Was als „Expertise“ gilt, wurde nicht klar definiert.

Was am Ende dabei herauskam. Am Ende standen 26 sogenannte Konsensaussagen – also vorsichtig formulierte Positionen, die jeweils von über 92 % der Beteiligten mit „zutreffend“ oder „teilweise zutreffend“ bewertet wurden.

Beispielsweise stimmten 95 % zu, dass die Bildschirmzeit bei Jugendlichen gestiegen sei, während gleichzeitig persönliche Zeit mit Freund*innen – besonders in den USA – abgenommen habe. 97 % hielten es für plausibel, dass die Auswirkungen von Aufmerksamkeitsfragmentierung auf die psychische Gesundheit bislang nur unzureichend erforscht seien.

Valerio Capraro, Erstautor der Studie und Sozialwissenschaftler an der Universität Milano-Bicocca, betont, dass diese Aussagen nicht als Endpunkt zu verstehen seien, sondern als Ausgangspunkt für weitere Forschung.

Der Ton macht die Musik – Kritik an der Kommunikation. Besonders heftig fiel die Kritik daran aus, wie die Ergebnisse präsentiert wurden. Nachdem Van Bavel den Preprint auf der Plattform Bluesky veröffentlicht hatte, verglich er kritische Stimmen außerhalb des „Konsenses“ mit Klimawandelleugnern – eine Formulierung, die er später zurückzog und den Beitrag löschte.

Etchells warnte daraufhin, solche Vergleiche würden legitime Kritik ausgrenzen und die notwendige wissenschaftliche Diskussion untergraben. Gerade in einem Feld mit vielen offenen Fragen sei das fatal.

Van Bavel erklärte im Nachhinein, sein Vergleich sei missverständlich gewesen. Man wolle keinesfalls den Eindruck erwecken, die Forschungslage im Bereich Social Media sei auch nur ansatzweise so gesichert wie beim Klimawandel. Vielmehr gehe es darum, differenzierte Positionen sichtbarer zu machen.

Wer gilt als „Expert*in“ – und wer wurde ausgeschlossen? Auch die Auswahl der Fachleute wurde kritisiert. So stieg etwa der Psychologe Chris Ferguson von der Stetson University aus dem Projekt aus, da er das Verfahren für voreingenommen hielt. Van Bavel entgegnete, es habe Ausstiege aus beiden „Lagern“ gegeben. Capraro betonte, dass die Meinungsvielfalt im Panel dennoch erhalten geblieben sei.

Ruben Arslan von der Universität Witten/Herdecke äußerte die Sorge, dass manche der Befragten Aussagen zu Themen getroffen hätten, die außerhalb ihres Fachgebiets liegen. So habe es etwa in der ersten Befragung Rückmeldungen gegeben, die von stark gesicherten Effekten sozialer Medien auf Körperbildvergleiche bei Mädchen ausgingen – obwohl solche Belege nicht existieren. In der endgültigen Fassung sei diese Aussage jedoch klar relativiert worden, so Capraro.

„Konsens“ klingt stärker als das, was tatsächlich drinsteht. Auch einige Mitautor*innen des Papiers meldeten sich kritisch zu Wort. So sagte Doug Parry, Kommunikationsforscher an der Freien Universität Amsterdam, man habe zu viel Gewicht auf die erste Umfragerunde gelegt, in der die Aussagen deutlich zugespitzter formuliert waren.

In der finalen Version seien die meisten Aussagen deutlich vorsichtiger – oft mit dem Hinweis versehen, dass die Evidenzlage unklar oder schwach sei. Der Titel des Preprints und dessen Zusammenfassung vermittelten aber ein anderes Bild, weil sie diese Nuancen aussparten.

Auch der Wissenschaftsphilosoph Peter Vickers von der Universität Durham bestätigte: Das Papier zeige letztlich nur eine starke Übereinstimmung bei sehr vorsichtigen Aussagen. Das sei kein Beweis für eine breite, inhaltlich fundierte Übereinkunft.

„Keine verantwortungsvolle Wissenschaftskommunikation“. Julia Rohrer, Psychologin an der Universität Leipzig und Expertin für Kausalitätsanalyse, kritisierte, dass ein Großteil der wichtigen Differenzierungen nur in einem über 200-seitigen Anhang der Studie zu finden sei. So gehe verantwortungsvolle Kommunikation von Wissenschaft in der Öffentlichkeit nicht, so ihre Einschätzung.

Capraro zeigte sich einsichtig: Man habe offenbar nicht genug Sorgfalt auf die Vermittlung der Inhalte gelegt. Eine Überarbeitung des Papiers sei sehr wahrscheinlich. „Wenn viele Menschen durch unsere Kommunikation in die Irre geführt wurden, liegt das natürlich in unserer Verantwortung“, so Capraro.                                                   

Differenzierung statt Schlagzeilen. Warum ist diese Diskussion wichtig? Weil das Thema Jugendliche, Smartphones und psychische Gesundheit nicht nur Eltern, Schulen und Medien interessiert, sondern auch politische Entscheidungen beeinflusst. Und die sollten – darin sind sich fast alle einig – nicht auf Basis vorschneller oder missverständlicher Studien getroffen werden.

Der Psychologe Pete Etchells brachte es auf den Punkt: Die Debatte sei überhitzt, man müsse dringend mehr Sachlichkeit hineinbringen. Doch dieses Papier, so seine Einschätzung, tue genau das Gegenteil.