Ein Thema, das manchmal unterschätzt wird, aber gerade für Kinder mit leichten Lernbehinderungen von außerordentlichem Wert sein kann, ist das Auswendiglernen. In einer Zeit, in der Smartphones und sofortige Informationsverfügbarkeit allgegenwärtig sind, mag das Memorieren als altmodisch erscheinen. Warum aber kann diese scheinbar einfache Übung ein kraftvolles Werkzeug für die neurologische und kognitive Entwicklung Ihres Kindes sein?
Warum auswendig lernen? Eine Übung mit tiefgreifender Wirkung.
Auswendiglernen ist weit mehr als das bloße Wiederholen von Inhalten. Wenn ein Kind oder ein noch junger Mensch etwas memoriert – sei es ein Gedicht, eine mathematische Regel oder historische Daten – aktiviert dies multiple Bereiche des Gehirns gleichzeitig. Es ist vergleichbar mit einem Ganzkörpertraining für das Gehirn. Wenn ein Kind ein Gedicht auswendig lernt, werden nicht nur sprachliche Zentren aktiviert. Das Gehirn muss Muster erkennen, Rhythmus verarbeiten, Bedeutungen erfassen und all diese Elemente in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Dabei entstehen neue neuronale Verbindungen – wie kleine Brücken im Gehirn, die immer stabiler werden, je öfter sie benutzt werden. Besonders für Kinder und Jugendliche mit leichten Lernbehinderungen bietet dies eine wunderbare Chance: Durch regelmäßiges Auswendiglernen können alternative Denkwege und Verarbeitungsstrategien entwickelt werden, die Betroffenen helfen, Herausforderungen zu bewältigen und Erfolge zu erleben.
Neurobiologie des Auswendiglernens: Was passiert im Gehirn Ihres Kindes?
Die Vorgänge, die sich im Gehirn eines Menschen abspielen, wenn er auswendig lernt, sind faszinierend. Dieser Prozess ist wie ein wundervolles neurobiologisches Konzert.

Zunächst werden Informationen im Arbeitsgedächtnis – dem sogenannten „Notizblock“ des Gehirns – aufgenommen. Dies geschieht primär im präfrontalen Cortex, dem vordersten Teil unseres Gehirns. Bei Menschen mit Lernbehinderungen kann diese Phase herausfordernd sein, da das Arbeitsgedächtnis oft eine geringere Kapazität aufweist. Doch genau hier liegt eine Chance: Durch regelmäßiges Üben kann diese Kapazität erweitert werden.
Bei wiederholtem Lernen werden die Informationen dann in das Langzeitgedächtnis überführt – ein Prozess, der als Konsolidierung bezeichnet wird. Hierbei spielt der Hippocampus, eine seepferdchenförmige Struktur tief im Gehirn, eine Schlüsselrolle. Er fungiert als eine Art Vermittler zwischen Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Die Lerninhalte werden im Wissensgedächtnis abgespeichert und durch neurotrophe Prozesse werden sowohl episodisches als auch semantisches Gedächtnis gestärkt und zum Wachstum angeregt.
Was dabei auf biochemischer Ebene geschieht, ist faszinierend
Bei jeder Wiederholung werden Botenstoffe wie Dopamin und Acetylcholin ausgeschüttet. Diese Neurotransmitter fördern nicht nur das Lernen, sondern sind auch mit positiven Emotionen und Motivation verbunden. Jedes Mal, wenn jemand erfolgreich etwas wiederholt, erlebt er nicht nur einen kognitiven, sondern auch einen emotionalen Erfolg!
Besonders bemerkenswert ist die Produktion von neurotrophen Faktoren, die beim intensiven Lernen vermehrt ausgeschüttet werden. Es sind Proteine, die das Wachstum von Nervenzellen fördern und sie verstärken die Synapsen – die Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Man könnte sagen: Auswendiglernen düngt den Boden für gesundes Hirnwachstum, nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen bis ins fortgeschrittene Alter.
Das Einmaleins: Mehr als nur Zahlen
Ein konkreter und für viele Eltern relevanter Bereich ist das Auswendiglernen des kleinen und großen Einmaleins. Für manche Kinder mit Lernbehinderungen kann dies eine besondere Herausforderung darstellen, aber auch eine außerordentlich wertvolle Übung sein.
Das Einmaleins ist wie das Alphabet der Mathematik – eine grundlegende Sprache, die ein Kind befähigt, komplexere mathematische Konzepte zu verstehen. Wenn ein Kind die Multiplikationstabelle sicher beherrscht, kann es sich bei schwierigeren Aufgaben vollständig auf die neuen Aspekte konzentrieren, ohne durch Grundrechenarten abgelenkt zu werden.
Neurologisch betrachtet etabliert das Auswendiglernen des Einmaleins stabile Verbindungen im parietalen Cortex, dem Gehirnbereich, der für mathematisches Denken zuständig ist. Diese automatisierten Pfade entlasten das Arbeitsgedächtnis enorm. Wenn Ihr Kind nicht mehr überlegen muss, was 7×8 ergibt, hat es mehr kognitive Ressourcen frei, um komplexere Probleme zu lösen.
Ein weiterer Vorteil: Das rhythmische Aufsagen des Einmaleins – „3×1=3, 3×2=6, 3×3=9…“ – schafft ein musikalisches Muster. Unser Gehirn liebt Muster und Rhythmen! Diese strukturierte Form des Lernens kann besonders für Kinder aber auch Jugendliche und Erwachsene mit Lernbehinderung hilfreich sein, da sie Ordnung in die manchmal chaotisch erscheinende Welt der Zahlen bringt. Ordnung in den Gedanken schafft Ruhe und vermittelt das Gefühl der Sicherheit. Chaos im Hirn erzeugt Unsicherheit und Angst. Ruhe und Sicherheit geben Kraft, Unsicherheit und Angst hingegen rauben Kraft.
Emotionale und motivationale Aspekte: Stärkung des Selbstvertrauens
Ein Aspekt, der oft übersehen wird, ist die emotionale Komponente des Auswendiglernens. Wer als Kind, Jugendlicher oder Erwachsener etwas fehlerfrei aufsagen oder vortragen kann – sei es ein Gedicht, eine historische Jahreszahl oder eben das Einmaleins – erlebt es ein unmittelbares Erfolgserlebnis. Dieses Gefühl der Meisterschaft ist unglaublich wertvoll, besonders für Kinder, die in anderen Bereichen vielleicht mehr Schwierigkeiten haben.
Jedes erfolgreiche Aufsagen führt zu einer Ausschüttung von Dopamin, dem „Glückshormon“. Dies verstärkt nicht nur die Gedächtnisbildung, sondern schafft auch eine positive Assoziation mit dem Lernprozess selbst. Lernen wird zunehmend verknüpft mit positiven Gefühlen – ein unschätzbarer Vorteil für die gesamte Bildungslaufbahn.
Darüber hinaus fördert regelmäßiges Auswendiglernen auch wertvolle Fähigkeiten wie Beharrlichkeit und Selbstdisziplin. Man erfährt: „Wenn ich dranbleibe und übe, kann ich etwas erreichen, das anfangs schwierig erschien.“ Diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist ein Geschenk, das weit über den schulischen und beruflichen Kontext hinausreicht.
Praktische Tipps: Wie Sie jemanden beim Auswendiglernen unterstützen können.
Wie können man nun konkret jemanden beim Auswendiglernen unterstützen? Unser Gehirn lernt am besten, wenn mehrere Sinne beteiligt sind. Fördern Sie daher multisensorisches Lernen, indem man einen Betroffenen das Einmaleins, ein Gedicht der einen kurzen Prosatext nicht nur aufsagen, sondern auch aufschreiben oder rhythmisch klatschen lassen. Je mehr Sinneskanäle beteiligt sind, desto stabiler werden die Gedächtnisspuren. Besonders wirksam sind kurze, regelmäßige Übungseinheiten – zehn Minuten täglich sind deutlich wirkungsvoller als eine Stunde einmal pro Woche. Diese regelmäßige Wiederholung unterstützt die Konsolidierung im Langzeitgedächtnis optimal und verhindert Frustration durch Überforderung. Man kann das Auswendiglernen zudem in ein Spiel verwandeln! Für das Einmaleins können Sie beispielsweise Karten erstellen, Memory spielen oder kleine Wettbewerbe veranstalten: „Wie schnell findest du alle Aufgaben mit dem Ergebnis 24?“ Solche spielerischen Ansätze halten die Motivation hoch und reduzieren den Leistungsdruck. Wichtig ist auch, bewusst Erfolgserlebnisse zu schaffen – beginnen Sie mit leichteren Teilen, beim Einmaleins vielleicht mit der 1er, 2er und 10er Reihe, kurzen Zwei- oder Vierzeilern oder einem lustigen kurzen Prosastück. Jeder kleine Erfolg stärkt das Selbstvertrauen und motiviert für den nächsten Schritt. Nicht zuletzt sollten Sie dem Lernenden Kontext und Bedeutung vermitteln. Zeigen Sie, wozu das Gelernte im Alltag nützlich ist: „Schau, wenn wir 4 Packungen Saft kaufen und jede 6 Euro kostet, können wir mit der 4er-Reihe schnell ausrechnen, wie viel wir bezahlen müssen.“ Man kann nach den Gefühlen beim Zitieren eines Gedichtes fragen, man kann nach ähnlichen Erlebnissen und Erfahrungen aus dem Inhalt eines Prosatexts suchen lassen. Diese Verknüpfung mit realen Situationen macht das abstrakte Wissen greifbar und sinnvoll.
Die richtige Balance: Verständnis und Auswendiglernen.
Wichtig ist mir zu betonen: Auswendiglernen ersetzt nicht das grundlegende Verständnis. Es ergänzt es! Beide Aspekte sind wichtig und unterstützen sich gegenseitig. Wenn man die Multiplikation als Konzept versteht UND die Ergebnisse automatisiert abrufen kann, hat es die besten Voraussetzungen für mathematische Kompetenz, wenn man lernt, Gefühle zu entdecken und sie zu kommunizieren, stärkt man die soziale Kompetenz, und wenn man über persönliche Erfahrungen und Erlebnisse zu sprechen lernt, fördert man die Selbstwirksamkeit.
Diese Balance gilt für alle Lernbereiche: Das auswendig gelernte Gedicht wird umso wertvoller, wenn Ihr Kind auch dessen Bedeutung erfasst. Die memorierten Vokabeln einer Fremdsprache werden erst durch deren Anwendung in sinnvollen Sätzen lebendig.
Die langfristige Perspektive: Auswendiglernen als lebenslange Ressource
Das Auswendiglernen ist als eine Investition in die Zukunft zu betrachten. Die Fähigkeit, sich Informationen einzuprägen und sie zuverlässig abzurufen, bleibt ein Leben lang wertvoll – sei es in der weiterführenden Schule, in einer Ausbildung oder im Berufsleben.
Die neuronalen Netzwerke, die durch diese Form des Lernens gestärkt werden, unterstützen nicht nur die Gedächtnisleistung, sondern auch die allgemeine kognitive Flexibilität und Verarbeitungsgeschwindigkeit – Fähigkeiten, die in unserer komplexen Welt zunehmend wichtig werden.
Besonders für Kinder mit leichten Lernbehinderungen kann das Auswendiglernen ein Weg sein, Selbstvertrauen aufzubauen und eigene Stärken zu entdecken. Die Erfahrung „Ich kann das!“ ist unbezahlbar und kann positive Auswirkungen auf die gesamte Lernbiografie haben.
- Inspiration: Prüfungsvorbereitung mit M.
- Quelle: Heimlich, U. & Wember, F. B. (Hrsg.) (2018). Didaktik des Unterrichts im Förderschwerpunkt Lernen: Ein Handbuch für Studium und Praxis (3. Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.
- Textbearbeitung: KI-unterstützt: claude.ai / chatgpt
- Bild: www.motorradphilosophen.de/supplement/gedaech/langzeit.htm