Die Diskussion um geschlechtergerechte Sprache erhitzt regelmäßig die Gemüter

Doch während sich darüber trefflich streiten lässt, bleibt ein viel entscheidenderes Thema oft im Schatten: die geschlechtergerechte Medizin. Dabei ist längst bekannt, dass Frauen und Männer sich nicht nur anatomisch und hormonell unterscheiden, sondern auch anders krank werden, andere Symptome zeigen und unterschiedlich auf Therapien ansprechen. Das gilt offenbar sogar für die Wirkung von Vitaminen – wie eine aktuelle Studie eindrucksvoll belegt.

Auf der Jahrestagung der American Psychiatric Association 2025 wurde ein Forschungsprojekt vorgestellt, das genau diesen Unterschied ins Zentrum rückt. Die Ergebnisse legen nahe: Vitamin D hat eine nachweisbar positive Wirkung auf die Gehirngesundheit von Frauen – bei Männern hingegen zeigte sich dieser Effekt nicht. Was zunächst wie ein medizinisches Detail erscheinen mag, offenbart bei näherem Hinsehen eine tiefere Schieflage im Gesundheitssystem.

Vitamin D: Besonders wichtig für das weibliche Gehirn?

Die Studie analysierte die Daten von über 1.100 Erwachsenen zwischen 36 und 102 Jahren. Im Mittelpunkt standen dabei der Vitamin-D-Spiegel im Blut, die kognitive Leistungsfähigkeit sowie bildgebende Verfahren wie MRT-Scans. Ziel war es, Zusammenhänge zwischen Nährstoffversorgung, Denkfähigkeit und der Struktur bestimmter Hirnareale zu erkennen.

Vitamin-D-Werten
Vitamin-D-Werten

Die zentrale Erkenntnis: Frauen mit höheren Vitamin-D-Werten zeigten bessere Gedächtnisleistungen und ein größeres Volumen in bestimmten Regionen des Gehirns – insbesondere im Putamen, Pallidum und Thalamus. Diese Areale sind unter anderem für Bewegung, Orientierung und Erinnerungsvermögen zuständig. Bei Männern jedoch blieb dieser Zusammenhang aus. Mehr noch: In manchen Fällen korrelierte ein höherer Vitamin-D-Spiegel sogar mit kleineren Hirnstrukturen.

Die Studienleiterin Dr. Meghan Reddy vom UCLA Semel Institute betonte, wie deutlich sich die Ergebnisse zwischen den Geschlechtern unterschieden. Sie sieht darin einen Hinweis auf grundlegend verschiedene neurobiologische Reaktionen, die bislang viel zu wenig beachtet wurden.

Was bedeutet das für den Alltag in der Medizin?

Noch ist Vorsicht geboten: Die Daten zeigen lediglich eine Korrelation, also einen statistischen Zusammenhang – keine Ursache-Wirkung-Beziehung. Dennoch sind die Resultate bemerkenswert. Denn in der medizinischen Praxis wird Vitamin D bislang geschlechtsneutral bewertet und bei Mangelzuständen gleichermaßen empfohlen. Dass Frauen offenbar stärker profitieren könnten, bleibt bisher unberücksichtigt. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob manche Männer überhaupt von einer Vitamin-D-Supplementierung profitieren – oder vielleicht sogar Nachteile haben.

Vitamin D
Vitamin D

Dr. Badr Ratnakaran, Geriatriepsychiater aus Virginia, sieht in den neuen Erkenntnissen einen wichtigen Impuls: Gerade weil Frauen häufiger von Demenzerkrankungen betroffen sind, etwa aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung, könnte Vitamin D für sie eine sinnvolle präventive oder unterstützende Maßnahme sein. Auch bei altersbedingten Depressionen, die ebenfalls häufiger Frauen betreffen, wurde in früheren Studien bereits ein positiver Einfluss von Vitamin D beobachtet.

Der Gender Data Gap – und seine Folgen

Die aktuelle Forschung wirft auch ein Licht auf ein viel größeres strukturelles Problem: den sogenannten „Gender Data Gap“. Damit ist gemeint, dass medizinische Forschung traditionell stark auf männliche Probanden ausgerichtet ist. Frauen sind in Studien unterrepräsentiert oder ihre Daten werden nicht separat ausgewertet. Viele medizinische Leitlinien und Dosierungsempfehlungen basieren also auf einem männlichen Durchschnitt – mit potenziell gravierenden Folgen für die Gesundheit von Frauen.

Die Vitamin-D-Studie macht das anschaulich: Ein möglicher therapeutischer Nutzen für Frauen bleibt ungenutzt, weil man die geschlechtsspezifischen Unterschiede gar nicht erst untersucht hat. Es ist ein klassisches Beispiel dafür, wie Gleichbehandlung ohne Differenzierung in die Irre führen kann.

Was sich ändern muss

Die Konsequenzen aus dieser Forschung sind klar: Medizin muss geschlechtssensibel werden – in der Forschung ebenso wie in der Praxis. Das beginnt bei der Planung von Studien, geht über die differenzierte Auswertung der Ergebnisse und reicht bis hin zur Aus- und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten. Es braucht mehr Lehrstühle für Frauenmedizin, mehr gezielte Fördermittel für geschlechtsspezifische Forschung und vor allem ein größeres Bewusstsein dafür, dass „eine Medizin für alle“ nur funktioniert, wenn sie Unterschiede anerkennt.

Auch Patientinnen selbst sollten darüber informiert sein, dass etwa Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamin D bei ihnen eine andere Wirkung entfalten können als bei Männern. Eine personalisierte Gesundheitsvorsorge beginnt nicht erst im Labor, sondern schon im Gespräch zwischen Ärztin und Patientin.

Die Zukunft der Medizin ist differenziert – oder ungerecht

Die Botschaft ist klar: Medizinische Gleichbehandlung heißt nicht, alle gleich zu behandeln – sondern gerecht. Und Gerechtigkeit bedeutet in diesem Fall, Unterschiede zu berücksichtigen. Dass ein scheinbar einfacher Blutwert wie der Vitamin-D-Spiegel so unterschiedlich mit der Gehirngesundheit von Frauen und Männern zusammenhängt, ist kein medizinisches Kuriosum. Es ist ein Weckruf für ein System, das sich immer noch zu sehr an einem „Durchschnittsmenschen“ orientiert, den es so gar nicht gibt.

Eine wirklich gerechte, wirksame und moderne Medizin kann nur dann entstehen, wenn wir genau hinschauen – und Unterschiede nicht nur akzeptieren, sondern auch nutzen. Für eine bessere Versorgung. Für gesündere Menschen. Und für eine Medizin, die alle meint.

Quellen:

  • Pauline Anderson: Vitamin D Especially Important for Brain Health in Women, but Not in Men?, Medscape, 27. Mai 2025
  • APA 2025 Annual Meeting, Los Angeles
  • Bild 1: www.sportskeeda.com/health-and-fitness/top-five-health-benefits-vitamin-d
  • Bild 2: www.freepik.com