Es ist ein faszinierendes Phänomen der menschlichen Psyche: das Konfabulieren. Während viele diesen Begriff mit Alkoholismus und dem Korsakow-Syndrom in Verbindung bringen, ist dieses Phänomen weitaus verbreiteter und komplexer als gemeinhin angenommen.

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Eine Bekannte erzählt Ihnen eine Geschichte, bei der Sie das Gefühl haben, dass Anfang und Ende stimmen könnten, aber der Mittelteil wirkt ausgeschmückt oder sogar erfunden. Ist diese Person eine „notorische Lügnerin“ oder steckt ein unbewusstes psychologisches Phänomen dahinter?

Was ist Konfabulieren? Konfabulieren bezeichnet das Phänomen, bei dem Menschen Erinnerungslücken mit erfundenen Inhalten füllen, ohne sich des fiktiven Charakters dieser „Erinnerungen“ bewusst zu sein. Im Gegensatz zur bewussten Lüge handelt es sich beim Konfabulieren um einen unbewussten Prozess.

Der deutsche Psychiater Karl Bonhoeffer prägte den Begriff 1904 bei der Untersuchung von Patienten mit Korsakow-Syndrom, einer durch chronischen Alkoholmissbrauch verursachten Hirnschädigung. Doch die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass Konfabulationen auch bei Menschen ohne Alkoholprobleme oder Hirnverletzungen auftreten können.

Konfabulieren bei gesunden Menschen. Die neurowissenschaftliche Forschung der letzten zwei Jahrzehnte hat unser Verständnis von Gedächtnis grundlegend verändert. Das Gedächtnis funktioniert nicht wie ein Videorekorder, der Ereignisse exakt aufzeichnet und später unverändert abspielt. Vielmehr ist es ein dynamisch-konstruktiver Prozess, bei dem fragmentarische Erinnerungen mit vorhandenem Wissen, Erwartungen und sozialen Einflüssen zu einer kohärenten (einer in sich stimmigen) Erzählung verknüpft werden.

Evidenz aus der Gedächtnisforschung. Mehrere klassische Studien belegen diese dynamisch-konstruktive Natur des Gedächtnisses:

Elizabeth Loftus hat bereits 1974 gezeigt, dass Erinnerungen durch Suggestivfragen verändert werden können. In einem berühmten Experiment sahen Teilnehmer ein Video eines Autounfalls. Wurde anschließend nach „dem zerschmetterten Glas“ gefragt, erinnerten sich viele an Glasscherben, obwohl im Video kein Glas zu sehen war. Dies zeigt, wie leicht falsche Informationen in die Erinnerung integriert werden.

Eine Studie von 1995 demonstrierte, dass Menschen vollständig falsche Erinnerungen entwickeln können. Probanden wurden mit erfundenen Geschichten konfrontiert, etwa dass sie als Kind in einem Einkaufszentrum verloren gegangen seien. Etwa 25% der Teilnehmer entwickelten detaillierte „Erinnerungen“ an dieses nie stattgefundene Ereignis. Diese Studie ging als ‚Lost-in-the-Mall‘-Studie in die Geschichte der Neuropsychologie ein.

Alltägliche Konfabulationen. Forschungsergebnisse von Ulric Neisser und anderen Gedächtnisforschern zeigen, dass alltägliche Konfabulationen häufiger sind als wir denken. In einer Studie wurden Studenten am Tag nach der Challenger-Katastrophe gebeten, ihre Erinnerungen an den Moment aufzuschreiben, als sie von dem Unglück erfuhren. Als sie 2-3 Jahre später erneut befragt wurden, stimmten nur 7% ihrer Berichte mit den ursprünglichen überein. Die meisten waren überzeugt, ihre veränderten Erinnerungen seien korrekt.

Eine ähnliche Studie zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001 fand, dass sich die Erinnerungen der Teilnehmer innerhalb eines Jahres erheblich veränderten, obwohl die emotionale Intensität des Ereignisses eigentlich für besonders stabile Erinnerungen sorgen sollte.

Neurobiologische Grundlagen. Die moderne Neurowissenschaft hat einige der Mechanismen aufgedeckt, die dem Phänomen des Konfabulierens zugrunde liegen.

Die Rolle des präfrontalen Kortex.
Die Rolle des präfrontalen Kortex.

Die Rolle des präfrontalen Kortex.  Der präfrontale Kortex spielt eine entscheidende Rolle bei der Quellenüberwachung („source monitoring“) – der Fähigkeit, zwischen verschiedenen Informationsquellen zu unterscheiden. Studien mit funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) zeigen, dass bei Konfabulationen oft Anomalien in dieser Hirnregion zu beobachten sind.

Menschen mit Schädigungen des ventromedialen präfrontalen Kortex neigen besonders zu Konfabulationen. Dieser Bereich ist für die Bewertung der emotionalen Relevanz von Erinnerungen und die „Realitätsprüfung“ zuständig. Bei leichten Dysfunktionen kann es auch bei sonst gesunden Menschen zu spontanen Konfabulationen kommen.

Das Default Mode Network.  Dieses Netzwerk von Hirnregionen ist aktiv, wenn wir nicht auf äußere Aufgaben fokussiert sind, sondern uns in Tagträumen, Selbstreflexion oder Erinnerungen verlieren. Neuere Forschungsarbeiten Hanna (2008) haben die Rolle des „Default Mode Network“ (DMN) beim autobiografischen Erinnern und Konfabulieren untersucht.  Eine übermäßige oder fehlerhafte Aktivierung des DMN wurde mit einer Tendenz zur Konfabulation in Verbindung gebracht. Die Balance zwischen diesem Netzwerk und den für exekutive Kontrolle verantwortlichen Hirnarealen scheint entscheidend für die Genauigkeit unserer Erinnerungen zu sein.

Psychologische Erklärungsmodelle. Warum konfabulieren Menschen? Verschiedene psychologische Theorien bieten Erklärungen:

Die Kohärenztheorie. Nach Hirstein (2005) dient das Konfabulieren dazu, Lücken in unserer Erinnerung zu füllen, um ein kohärentes Selbst- und Weltbild aufrechtzuerhalten. Unser Gehirn bevorzugt konsistente Narrative gegenüber fragmentarischen Erinnerungen und füllt Lücken automatisch aus.

Die motivationale Theorie. Conway und Pleydell-Pearce (2000) argumentieren in ihrem Modell des „self-memory system“, dass Erinnerungen oft im Einklang mit unserem Selbstbild verzerrt werden. Menschen neigen dazu, Erinnerungen unbewusst so zu konstruieren, dass sie ihr Selbstwertgefühl schützen oder ihre Identität stärken.

Moscovitch und Melo (1997) bezeichnen bestimmte Konfabulationen als „honest lying“ – ehrliches Lügen. Die Betroffenen erfinden keine bewussten Lügen, sondern versuchen, ein kohärentes Selbstbild zu bewahren.

Die soziale Theorie.Maryanne Garry und andere Forscher haben die sozialen Aspekte des Erinnerns untersucht. Erinnerungen werden oft in sozialen Kontexten geformt und geteilt. Durch wiederholtes Erzählen können Geschichten ausgeschmückt werden, wobei die Reaktionen der Zuhörer die Geschichte beeinflussen und verstärken können.

Unterschiede zwischen Konfabulieren und pathologischem Lügen. Es ist wichtig, Konfabulieren von pathologischem Lügen zu unterscheiden:

KonfabulierenPathologisches Lügen
Unbewusster ProzessBewusstes, wenn auch oft zwanghaftes Verhalten
Dient der LückenfüllungDient oft der Selbstdarstellung oder dem persönlichen Vorteil
Person glaubt an die Wahrheit des ErzähltenPerson ist sich der Unwahrheit meistens bewusst
Keine böse AbsichtKann manipulative Absichten beinhalten

Charles Ford, ein führender Forscher auf dem Gebiet der pathologischen Lüge, beschreibt in seinem Buch „Lies! Lies!! Lies!!!“ (1996) das pathologische Lügen als ein Verhalten, bei dem die betroffene Person ein Bewusstsein für die Unwahrheit hat, auch wenn es zur Gewohnheit geworden ist.

Spezifische Syndrome mit Konfabulationsneigung. Neben dem bekannten Korsakow-Syndrom gibt es weitere Zustände, die mit verstärkter Konfabulationsneigung einhergehen können:

Pseudologia Fantastica. Dieser Zustand beschreibt das Erzählen komplexer, oft dramatischer und unwahrer Geschichten. Im Gegensatz zum pathologischen Lügen verschwimmt hier die Grenze zwischen bewusster Lüge und unbewusstem Glauben an die eigenen Geschichten. Die Betroffenen scheinen manchmal selbst von ihren Erzählungen überzeugt zu sein.

Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Neuere Studien zeigen, dass Menschen mit ADHS zu einer erhöhten Rate an Gedächtnisfehlern und falschen Erinnerungen neigen können. Die Impulsivität und die Defizite in der exekutiven Kontrolle können dazu führen, dass Erinnerungslücken schneller und unreflektierter gefüllt werden.

Borderline-Persönlichkeitsstörung. Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung können zu emotionaler Dysregulation und Schwarz-Weiß-Denken neigen. Dies kann zu einer verzerrten Wahrnehmung und Erinnerung führen, besonders in emotional aufgeladenen Situationen.

Konfabulieren im Alltag erkennen. Wie können wir alltägliches Konfabulieren erkennen? Einige Anzeichen sind zum Beispiel Inkonsistenzen in der Erzählung: Die Geschichte enthält Widersprüche oder unlogische Elemente.  Übermäßige Details bei nebensächlichen Aspekten: Manchmal werden unwichtige Details übergenau beschrieben, während zentrale Elemente vage bleiben. Emotionale Überzeugung: Die Person wirkt absolut überzeugt von ihrer Geschichte, trotz offensichtlicher Unstimmigkeiten.  Anpassung bei Nachfragen: Die Geschichte wird bei kritischen Nachfragen spontan angepasst oder erweitert. Mustererkennung: Bestimmte Elemente oder Muster tauchen in verschiedenen Geschichten immer wieder auf.

Empathischer Umgang mit Konfabulationen. Wenn Sie vermuten, dass jemand konfabuliert, ist ein verständnisvoller Umgang wichtig:  Nicht als „Lügner“ abstempeln: Konfabulieren ist in den meisten Fällen kein bewusstes Lügen, sondern ein unbewusster Prozess. Verständnis für die zugrundeliegenden Mechanismen entwickeln: Das Wissen über die konstruktive Natur des Gedächtnisses kann helfen, mehr Verständnis aufzubringen. Sanfte Realitätsorientierung: Bei bedeutsamen Themen kann man behutsam auf Unstimmigkeiten hinweisen, ohne die Person bloßzustellen. Bei Verdacht auf psychische Störungen: Professionelle Hilfe suchen: Wenn das Konfabulieren das alltägliche Leben beeinträchtigt oder mit anderen Symptomen einhergeht, ist psychologische oder psychiatrische Beratung sinnvoll.

Schlussfolgerung. Das menschliche Gedächtnis ist kein objektiver Speicher, sondern ein kreativer, konstruktiver Prozess. Konfabulieren ist keine Seltenheit, sondern in milderer Form ein alltägliches Phänomen, das auf den grundlegenden Funktionsweisen unseres Gehirns basiert.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse und belastbare Daten (Evidenz) zeigen deutlich, dass wir alle zu einem gewissen Grad konfabulieren. Wir füllen Lücken in unseren Erinnerungen, passen Geschichten an unsere Selbstwahrnehmung an und konstruieren kohärente Narrative, wo tatsächlich nur fragmentarische Erinnerungen existieren.

Die Grenze zwischen normaler Gedächtniskonstruktion, Konfabulieren und bewusstem Lügen ist fließend und komplex.

Inspiration: Gespräche mit Bettina.

Quelle: Fuermaier, A.B.M., et al. (2018). False memory formation in adults with ADHD. Journal of Neural Transmission, 125 (2), 255-265). (Übersetzung mit Hilfe von KI).

Bild: www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK554483/