Der Suizid, ein Thema von existenzieller Wucht, wird seit jeher in Philosophie, Literatur und Gesellschaft kontrovers diskutiert. Ist der Freitod ein Ausdruck ultimativer Schwäche und Kapitulation vor dem Leben? Oder stellt er vielmehr einen finalen Akt radikaler Selbstbestimmung dar? Um diesen Fragen nachzugehen, sollen die Perspektiven zweier bedeutender Denker, Jean Améry und Jean-Paul Sartre, einander gegenübergestellt und durch Beispiele aus Leben und Literatur ergründet werden.

Jean Améry: Suizid als Akt der Selbstbestimmung

Jean Améry (von Félix De Boec, 1951
Jean Améry (von Félix De Boec, 1951

Jean Améry, österreichischer Schriftsteller und Holocaust-Überlebender, sah im Suizid keinen Akt der Schwäche, sondern eine Möglichkeit des Subjekts, sich selbst radikal zu bestimmen. In seinem Werk Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod erklärt er, dass der Suizid als „eigentlichster Ausdruck der Freiheit“ verstanden werden könne (Hand an sich legen, S. 21). Für Améry ist der Mensch seiner Existenz nicht ausgeliefert; der Freitod erlaubt es ihm, sich seiner selbst zu bemächtigen, indem er den Determinismus der Umstände überwindet.

Amérys eigene Lebensgeschichte verleiht dieser Argumentation Gewicht. Die psychischen Narben seiner Zeit in Auschwitz ließen ihn das Leben als untragbare Last empfinden. Sein Freitod im Jahr 1978 war die Endkonsequenz seiner Überzeugung, dass ein Leben, das sich für ihn nicht mehr lebenswert anfühlte, auch nicht ertragen werden müsse. Er schreibt: „Der Suizid bricht den Zwang, den die Natur dem Leben auferlegt, und setzt ein endgültiges Zeichen der Freiheit gegen diese Abhängigkeit“ (Hand an sich legen, S. 63).

Ein Beispiel, das Amérys Haltung spiegelt, ist Virginia Woolf.

Portrait of Virginia Woolf (January 25, 1882 – March 28, 1941), a British author and feminist, with her chignon. Quelle: Wikipedia
Portrait of Virginia Woolf (January 25, 1882 – March 28, 1941), a British author and feminist, with her chignon. Quelle: Wikipedia

Geplagt von Depressionen und dem Gefühl, ihre geistige Klarheit zu verlieren, entschied sie sich bewusst für den Tod. In ihrem Abschiedsbrief an ihren Mann schrieb sie: „Ich kann nicht länger kämpfen. Ich höre Stimmen und kann mich nicht konzentrieren. […] Ich tue, was ich für das Beste halte“  (The Letters of Virginia Woolf, S. 486). Woolf’s Entscheidung zeigt, dass der Suizid aus einer rationalen Abwägung hervorgehen kann – nicht als Kapitulation, sondern als bewusster Abschied, um einem untragbaren Zustand zu entkommen.

Jean-Paul Sartre: Engagement statt Resignation

Jean-Paul Sartre (um 1967), Quelle Wikipedia
Jean-Paul Sartre (um 1967), Quelle Wikipedia

Jean-Paul Sartre, Begründer des Existentialismus, betonte hingegen die Verantwortung des Menschen, seinem Leben selbst Sinn zu verleihen – unabhängig von äußeren Bedingungen. In Das Sein und das Nichts argumentiert er, dass Freiheit nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Wahl bedeutet. Der Mensch sei zur Freiheit „verurteilt“, und in dieser Freiheit liege die Notwendigkeit, trotz aller Absurdität des Lebens Verantwortung zu übernehmen (Das Sein und das Nichts, S. 556). Für Sartre ist der Suizid ein Ausweg, aber einer, der die Verantwortung für das eigene Leben negiert.

In seinem Drama Die Fliegen lässt Sartre die Figur des Orest sagen: „Ich nehme meine Taten auf mich. […] Es ist der Preis der Freiheit, die Last der Welt zu tragen, anstatt vor ihr zu fliehen“ (Die Fliegen, S. 91). Dieser Gedanke verdeutlicht Sartres Ansicht, dass der Mensch nicht vor der Absurdität fliehen, sondern sich aktiv mit ihr auseinandersetzen sollte.

Viktor Frankl, Quelle Wikipedia
Viktor Frankl, Quelle Wikipedia

Ein eindrückliches Beispiel für Sartres Haltung ist Viktor Frankl, ein Holocaust-Überlebender und Begründer der Logotherapie. Frankl argumentiert in …trotzdem Ja zum Leben sagen, dass der Sinn des Lebens nicht in den Umständen liegt, sondern in der Haltung, die man ihnen gegenüber einnimmt. Er schreibt: „Das Leben hält seinen Sinn unter allen Umständen bereit, selbst unter dem erbärmlichsten. […] Was zählt, ist nicht, was wir vom Leben erwarten, sondern vielmehr, was das Leben von uns erwartet“ (…trotzdem Ja zum Leben sagen, S. 115). Selbst in den grausamen Bedingungen des Konzentrationslagers fand Frankl Sinn, indem er seinen Mitmenschen half und sich auf die Zukunft konzentrierte. Diese Sinnfindung verlieh seinem Leben einen Wert, der ihn die tiefsten Tiefen der Existenz überstehen ließ.

Ein Spannungsfeld zwischen Selbstaufgabe und Selbstermächtigung

Die gegensätzlichen Perspektiven von Améry und Sartre verdeutlichen die Ambivalenz des Suizids. Während Améry ihn als Ausdruck der ultimativen Freiheit feiert, sieht Sartre darin eine Verleugnung der Verantwortlichkeit, die der Mensch gegenüber seiner Existenz hat. Die Beispiele von Virginia Woolf und Viktor Frankl zeigen, dass die Entscheidung für oder gegen den Suizid tief in der individuellen Erfahrung und Weltanschauung verwurzelt ist.

Virginia Woolf, die in ihrer Literatur intensiv mit psychischer Zerbrechlichkeit und existenzieller Angst rang, schrieb in Mrs. Dalloway: „Die Dinge brechen zusammen. […] Es ist uns unmöglich, das Leben immer wieder neu zu beginnen“ (Mrs. Dalloway, S. 176).                                                                                                                

Dieser Gedanke spiegelt die Überzeugung wider, dass ein Punkt erreicht werden kann, an dem die Kontinuität des Lebens unerträglich wird. Ihr Abschiedsbrief zeigt jedoch auch eine tiefempfundene Liebe und Verantwortung: „Ich glaube, zwei Menschen hätten nicht glücklicher sein können, als wir es waren“

(The Letters of Virginia Woolf, S. 487).

Viktor Frankl dagegen betont die Möglichkeit der Sinnfindung selbst in der dunkelsten Stunde.

Sein bekanntes Zitat: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion“ (…trotzdem Ja zum Leben sagen, S. 72) zeigt, dass der Mensch in seiner Freiheit und Verantwortlichkeit immer Handlungsspielraum hat – eine Überzeugung, die Sartres Philosophie nahekommt.

Fazit

Die Perspektiven auf den Suizid zeigen ein Spannungsfeld zwischen Selbstaufgabe und Selbstermächtigung. Améry und Woolf erheben den Freitod zum Akt der Autonomie und stellen die Kontrolle über das eigene Schicksal in den Mittelpunkt. Sartre und Frankl hingegen fordern dazu auf, selbst in aussichtslosen Situationen Verantwortung zu übernehmen und das Leben aktiv zu gestalten. Diese Diskussion zwingt uns, grundlegende Fragen zu stellen: Was bedeutet Freiheit, wenn das Leben selbst zur Last wird? Wie weit reicht die Verantwortung, die wir uns selbst und anderen gegenüber tragen? Die Antwort bleibt eine zutiefst individuelle Entscheidung, die von der Lebenssituation, dem persönlichen Leid und der existenziellen Haltung des Einzelnen abhängt. Wie Sartre schreibt: „Der Mensch ist nichts anderes, als wozu er sich macht“ (Das Sein und das Nichts, S. 60).

Hinweis:  Wenn Ihre Gedanken kreisen und Sie daran denken, sich das Leben zu nehmen, versuchen Sie, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein, müssen es aber nicht. Es kann für Sie schwer sein, ausgerechnet über dieses Thema mit Menschen zu sprechen, die Ihnen nahe stehen. Einen ersten Ansprechpartner finden Sie zum Beispiel hier:  Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar. 

Die Telefonnummern sind 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222.  Der Anruf bei der Telefonseelsorge ist nicht nur kostenfrei, er taucht auch nicht auf der Telefonrechnung auf, ebenso nicht im Einzelverbindungsnachweis.