Meine Damen und Herren,

es ist mir eine befremdliche Aufgabe, mich an Sie zu wenden. Doch eben diese Aufgabe ermöglicht und erfordert es, dass ich mich an Ihre Vernunft wende, jene Gabe, die allen Menschen gemeinsam ist, und die uns, obgleich oft verdeckt durch Vorurteile und Leidenschaften, zu moralischen Wesen erhebt.

Ich beginne mit einer einfachen, aber grundlegenden Frage: Was ist der Mensch? Nicht allein biologisch, nicht allein politisch, sondern als vernünftiges Wesen, das sittliche Pflichten erkennt und sich ihnen unterwirft? Der Mensch ist nicht bloß ein Mittel zu fremden Zwecken, sondern stets Zweck an sich, getragen von einer Würde, die unantastbar ist.

Sie sprechen viel von „Identität“, von „Schutz“ und von „Gefahren“, die angeblich von anderen ausgehen. Doch frage ich Sie: Handeln Sie dabei nach dem kategorischen Imperativ, der uns gebietet, nur nach derjenigen Maxime zu verfahren, die zugleich zum allgemeinen Gesetz werden könnte? Wenn Sie in Ihrer Sprache und in Ihren Forderungen Menschen aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder Überzeugung herabsetzen, wie könnten Sie rechtfertigen, dass diese Maxime ein allgemeines Gesetz der Menschheit werden sollte?

Ich höre oft von Ihnen Worte der Angst, Worte der Abgrenzung, Worte des Misstrauens. Doch sage ich Ihnen: Angst ist ein schlechter Ratgeber. Sie mag verständlich sein, doch sie darf niemals die Grundlage von Recht und Moral bilden.

Wo die Vernunft schweigt, erhebt die Leidenschaft ihr Haupt, und in dieser Dunkelheit gedeihen Ungerechtigkeit und Hass.

Es liegt in Ihrer Macht, über Ihre eigenen Motive nachzudenken und diese vor dem Gerichtshof Ihrer eigenen Vernunft zu prüfen. Denn der Mensch ist nicht nur unterworfen den Gesetzen der Natur, sondern auch einem inneren Gesetz, dem moralischen Gesetz, das wir alle in uns tragen. Dieses Gesetz ermahnt uns, über die engen Schranken unseres Ichs hinauszublicken und uns in die Lage jedes anderen Menschen zu versetzen.

Die Welt, wie Sie sie heute erleben, ist geprägt von Wandel, von Migration, von Konflikten. Doch fragen Sie sich, ob es Ihrer Verantwortung als Bürger eines aufgeklärten Zeitalters entspricht, in einer solchen Zeit Mauern zu errichten und andere auszugrenzen.  Die Menschheit hat stets Fortschritte erzielt, wenn sie auf Zusammenarbeit, auf Verständigung und auf die wechselseitige Anerkennung ihrer Würde gesetzt hat.

Ich appelliere an Sie, an Ihre Vernunft und an Ihr Gewissen:

Fragen Sie sich, ob die Maximen, die Sie in Ihrer Partei vertreten, der Menschheit als Ganzes nützen. Fragen Sie sich, ob Ihr Handeln dem Prinzip der Gerechtigkeit und der Achtung vor der Menschenwürde entspricht. Fragen Sie sich, ob Sie nicht anstatt Angst zu schüren, zur Aufklärung beitragen könnten, anstatt zu spalten, Brücken bauen könnten.

Ein freies, aufgeklärtes Volk bedarf keiner Feindbilder, sondern nur der Einsicht, dass die Freiheit des einen stets die Freiheit des anderen voraussetzt. Sie, meine Damen und Herren, tragen Verantwortung – nicht nur für die Menschen, die Ihnen zustimmen, sondern für die Gemeinschaft der Menschheit insgesamt.

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, sagte ich einst. Diesen Mut fordere ich nun von Ihnen. Nicht den Mut, andere zu bekämpfen, sondern den Mut, sich selbst zu hinterfragen.

Mit der Achtung, die jedem Menschen gebührt,
Ihr Immanuel Kant