„Wollt ihr den totalen Krieg?“, fragt der Mann am Rednerpult, und die 15.000 Besucher im Saal springen wie in einer Welle nacheinander von den Plätzen, reißen die Arme in die Luft und schreien „Ja“.
Massenpsychologie und die Psychologie der Massen
Gustave Le Bon (1841-1931) und sein Werk ‚Psychologie der Massen‘(1895) gehören zu den einflussreichsten Schriften der Sozialpsychologie des späten 19. Jahrhunderts. Le Bons Ansichten über die Dynamik und das Verhalten von Massen haben bis heute eine starke Relevanz, insbesondere angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen in Europa. Der Wiederaufstieg autoritärer Regime und die zunehmende Politisierung der Gesellschaft werfen Fragen darüber auf, wie Massenpsychologie funktioniert und wie autoritäre Führer diese Mechanismen ausnutzen.
Psychologie der Massen: eine kurze Übersicht
Gustave Le Bon war ein französischer Arzt, Soziologe und Psychologe, der seiner Zeit weit voraus war. Sein Hauptwerk, ‚Psychologie der Massen‘ wurde zu einem Schlüsseltext für das Verständnis des Verhaltens von Menschenmassen und ihrer Manipulierbarkeit. Le Bon argumentierte, dass sich Individuen in Massen anders verhalten als allein, und dass Massen oft irrational, emotional und leicht manipulierbar sind. In seiner Analyse beschreibt er die Psychologie der Masse als anfällig für Suggestion und empfänglich für starke Führer, die einfache, klare und emotionale Botschaften vermitteln.
Le Bons Arbeit hat seither zahlreiche Führer beeinflusst, darunter Hitler, Lenin, Mao Zedong, Stalin und Pol Pot, alle umgeben vom vergöttlichendem Führerkult und als Massenmörder endend. Sie alle nutzten Erkenntnisse der Massenpsychologie in autokratischen Diktaturen.
Der Aufstieg autoritärer Regime im Europa des 21. Jahrhunderts in Ländern wie Ungarn, Polen und der Türkei, macht eine Neubewertung der Arbeit Le Bons erforderlich, um zu verstehen, wie Massenpsychologie im heutigen politischen Klima funktioniert.
Die vier wesentlichen Elemente der Massenpsychologie
Le Bon stellt fest, dass das Individuum, sobald es Teil einer Masse wird, einen Teil seiner eigenen Persönlichkeit und seiner individuellen Verantwortung aufgibt. In der Masse erlebt der Einzelne eine Art ‚Verlust des Selbst‘, was dazu führt, dass er impulsiver, emotionaler und unvernünftiger wird.
Das Gefühl der Anonymität in der Masse zu sein, erleichtert es den Menschen, Verantwortung für ihr Verhalten abzugeben und sich von sozialen Normen zu lösen.
Massen in ihrer gesteigerten Emotionalität reagieren stärker auf emotionale Appelle als auf rationale Argumente. Führer, die es verstehen, die Emotionen einer Massen zu manipulieren, können diese leicht kontrollieren.
Massen sind besonders empfänglich für Suggestionen. Ein charismatischer Führer kann die Stimmung einer Masse lenken und ihre Handlungen steuern, indem er einfache, einprägsame und emotionale Botschaften vermittelt.
In der Vereinfachung von komplexen politischen oder sozialen Problemen werden in der Massenpsychologie von Führern oft einfache Lösungen angeboten, die die Masse bereitwillig akzeptiert.
Die Wiedererstarkung autoritärer Regime in Europa und anderswo
In den letzten Jahren hat Europa eine deutliche Wiederkehr autoritärer und populistischer Tendenzen erlebt. Länder wie Ungarn unter Viktor Orban, Polen unter der PiS-Regierung, am Rande Europas der Türkei unter Recep Tayyip Erdogan und Russland unter Vladimir Putin haben politische Veränderungen durchgesetzt, die als antidemokratisch und autoritär gelten. Gleichzeitig haben sich in vielen Teilen Europas populistische Bewegungen etabliert, die auf starke Führer und emotional aufgeladene Botschaften setzen. Le Bons Theorien bieten einen Erklärungsrahmen für dieses Phänomen. Die zunehmende Unsicherheit, wirtschaftliche Herausforderungen und soziale Spannungen haben dazu geführt, dass viele Menschen sich nach einfachen Lösungen und starken Führern sehnen.
Orban, Putin, Trump und andere nutzen die emotionalen Ängste der Bevölkerung – vor Einwanderung, Globalisierung oder dem Verlust nationaler Souveränität – und bieten einfache, klare Antworten an. Diese emotionalen Appelle funktionieren, weil sie die Massen auf einer irrationalen Ebene ansprechen.
‚Make America Great Again‘‚America First‘
In Ungarn hat die Regierung zum Beispiel geschickt die Medienlandschaft kontrolliert, um kritische Stimmen zu unterdrücken und eine homogene, emotionale Erzählung zu etablieren. Dies beweist die Bedeutung der Vereinfachung und Suggestion in der Massenpsychologie. Es werden eine einprägsame Bildsprache und einfache und falsche Erklärungsmuster geprägt und stetig wiederholt. Wenn eine Regierung die narrative Kontrolle hat, kann sie die öffentliche Meinung in ihrem Sinne formen und stabilisieren.