Cornelia Funkes ‚Gestaltwandler‘ als psychotherapeutisches Konstrukt. Bücher wie ‚Tintenherz‘, ‚Drachenreiter‘ und ‚Herr der Diebe‘ haben Cornelia Funke weltberühmt gemacht. Im Interview erklärt sie, wie das Motiv des ‚Gestaltwandlers‘ in ihren Werken und bei sich selbst Anwendung findet.
Hier einen Ausschnitt aus dem Interview:
In ‚Herr der Diebe‘ hat man als Leser den Eindruck, dass die Magie in unserer Welt fast greifbar ist. Liegt das an den Kinderaufgen? Oder ist das die Magie Venedigs? ‚Eher die Magie Venedigs. Ich glaube, dass Erwachsene sie genauso spüren können wie Kinder. Manche Erwachsene verkneifen sich das aber. Kinder hingegen erlauben sich, Gestaltwandler zu sein. Sie können sich zum Beispiel vorstellen, eine der Tauben auf dem Markusplatz zu sein. Es erstaunt mich, wie sehr Erwachsene manchmal Angst vor der Vorstellung haben, jemand anderes zu sein. (…) Ich bin ein ganz natürlicher Gestaltwandler. Mir ist das zum Glück nie abhandengekommen. Ich habe immer noch das Talent, alles so wie am ersten Tag zu sehen und vollkommen begeistert zu sein.‘ (www.shz.de/deutschland-welt/panorama/artikel/cornelia-funke-im-interview-mut-magie-und-ein-wiedersehen-48057099).
Märchen, Fabeln, Parabeln, Kurzgeschichten, Novellen, Romane und Dramen bauen in ihren jeweiligen fiktiven Rahmen und Hintergründen auf Charakter- und Persönlichkeitsskizzen auf. Am deutlichsten geschieht das in Fabeln, wo ein bestimmtes Tier konkret für einen menschlichen Charakterzug steht. Der starke Löwe, der schlaue Fuchs, der eitle Hahn und der dumme Esel treten in typisch menschliche Interaktionen und verhalten sich ihrer ‚Natur‘ entsprechend.
Wenn man nun die Rollen einmal vertauscht, dass zum Beispiel der dumme Esel den schlauen Fuchs in eine Falle tappen und diesen dumm aussehen lässt, erscheint der ganze Sinn, die ganze Botschaft der Fabel wie auf den Kopf gestellt. ‚Das kann doch so gar nicht sein! Kann nicht? Darf nicht? Doch, es kann, darf und muss sogar manchmal sein. Unter Einsatz seiner Spiegelneuronen oder der Methode des Perspektivwechsels wird man zum Gestaltwandler. Vollends wird man dazu, wenn man sich im Rahmen einer Hypnose oder ‚inneren Reise‘ in die gewünschte oder vorgeschlagene Gestalt eintaucht, wie sie denkt und fühlt und rein imaginativ auch so handelt. Nicht zuletzt findet das literarische und geistige Konstrukt seinen Niederschlag im Konzept der Gestaltpsychologie und Gestalttherapie.
Der Begriff des Gestaltwandlers in verschiedenen Disziplinen und seine Bedeutung für die Psychotherapie.
Der Begriff ‚Gestaltwandler‘ ist in erster Linie aus Mythologie und Literatur bekannt, wo er Wesen beschreibt, die ihre Form oder Identität ändern können. In der Wissenschaft können Metaphern wie diese jedoch ebenfalls von Bedeutung sein. Sie bieten eine Möglichkeit, komplexe psychische Prozesse und Entwicklungen zu beschreiben. So findet der Begriff in der Literatur, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Entwicklungs- und Kinderpsychologe, der Psychopathologie und der psychotherapeutischen Praxis Verwendung.
Gestaltwandler in der Literatur: In der Literatur steht der Gestaltwandler häufig für Transformation, Identitätsfragen und Anpassungsfähigkeit. Figuren wie Werwölfe, Formwandler, Gestaltwandler oder Transformer aus der Fantasy-Literatur spiegeln oft innere Konflikte und psychische Wandlungsprozesse wider. Diese archetypischen Figuren können als Symbole für die Möglichkeit verstanden werden, sich den Herausforderungen des Lebens anzupassen oder tiefgreifende Veränderungen zu durchlaufen. Im therapeutischen Kontext könnte dieser literarische Gestaltwandel als Metapher für persönliche Entwicklung und Resilienz genutzt werden. Im negativen Sinn können Gestalten auch als ‚gestaltgewordene‘ Bedrohungen und Ängste gedeutet werden.
In der Psychologie lässt sich der Begriff mit Konzepten wie ‚Selbstkonzept‘ und ‚Identität‘ in Verbindung bringen. Es umschließt die Fragekette ‚Wer bin ich‘, Wer möchte ich sein‘ und ‚Wie kann ich es werden‘. Theorien wie die von Carl Rogers betonen, dass das Selbst flexibel ist und durch Erfahrungen geformt werden kann. In diesem Sinne könnten Gestaltwandler Menschen repräsentieren, die ihre Identität aktiv neugestalten und anpassen, um mit Veränderungen in ihrer Umwelt umzugehen. Das Konzept lässt sich auch auf resiliente Individuen anwenden, die in der Lage sind, Krisen nicht nur zu überleben, sondern sich durch diese weiterzuentwickeln.
In der Erziehungswissenschaft hingegen könnte der Gestaltwandler als Symbol für die transformative Kraft der Bildung und Erziehung dienen. Kinder und Jugendliche durchlaufen im Laufe ihres Lebens zahlreiche ‚Gestaltwandlungen‘, sei es in kognitiver, emotionaler oder sozialer Hinsicht. Ein erfolgreicher Bildungsprozess ermöglicht es, Potenziale zu entdecken und Identitäten zu entwickeln, die an die Herausforderungen einer sich verändernden Welt angepasst sind.
Die Entwicklungspsychologie beschreibt den Menschen auch als dynamisches Wesen, das von Kindheit an verschiedenen Entwicklungsphasen unterliegt. Der Begriff des Gestaltwandlers könnte hier das Wechselspiel zwischen Kontinuität und Veränderung symbolisieren. Beispielsweise durchlaufen Kinder, die in unterschiedlichen kulturellen Kontexten aufwachsen, oft eine Anpassung ihrer Identität und Werte, um sich an die Erwartungen und Normen ihrer Umwelt anzupassen.
In der Psychopathologie könnte der Gestaltwandler metaphorisch für dissoziative Zustände oder multiple Identitätsstörungen stehen. Menschen mit solchen Störungen erleben oft eine Fragmentierung ihrer Identität, die durch spezifische Auslöser oder traumatische Erlebnisse verstärkt werden kann. Der Gestaltwandler in diesem Kontext repräsentiert nicht nur die Schwierigkeiten der Integration unterschiedlicher Anteile des Selbst, sondern auch das Potenzial für Heilung durch Integration und Selbstakzeptanz.
In der Psychotherapie könnte der Gestaltwandler als zentrale Metapher für Veränderung, Anpassung und Entwicklung dienen. Therapeutische Ansätze wie die Gestalttherapie, die den Begriff ‚Gestalt‘ bereits im Namen tragen, könnten direkt von dieser Metapher profitieren. Hierbei könnte der Klient ermutigt werden, unterschiedliche ‚Gestalten‘ oder Aspekte seiner selbst zu erkunden, anzunehmen und zu integrieren.
Ein Beispiel aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen wäre die Nutzung von Rollenspielen, bei den das Kind verschiedene ‚Gestalten‘ annimmt, um innere Konflikte zu explorieren und neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken. Ein Kind, das beispielsweise Schwierigkeiten mit der Bewältigung von Ängsten hat, könnte sich in die Rolle eines starken, mutigen Tieres wie eines Löwen versetzen. Durch die Erfahrung, ‚die Gestalt‘ des Löwen anzunehmen, kann das Kind symbolisch neue Stärken und Ressourcen entdecken, die dann in den Alltag übertragen werden. Bei Erwachsenen könnte ein ähnlicher Ansatz im Rahmen von Imaginationstechniken oder narrativer Therapie genutzt werden. Ein Klient, der sich in einer Lebenskrise befindet, könnte eingeladen werden, eine Geschichte über einen Gestaltwandler zu erzählen, der sich erfolgreich an neue Herausforderungen anpasst. Durch das Erzählen dieser Geschichte kann der Klient Perspektivwechsel und Selbstwirksamkeit erleben und erarbeiten, wie er die Qualitäten des Gestaltwandlers in seine eigen Lebensrealität integrieren kann.
Ein Beispiel psychotherapeutischen Vorgehens mit dem Konstrukt des ‚Gestaltwandlers‘ in der Erwachsenenpsychotherapie mit Fokus auf Beziehungsdynamik zeigt die Grundstruktur der Arbeit mit dem Tool.
- Ausgangspunkt: Schwierige Partnerschaftsdynamik. Eine Klientin berichtet, dass sie in ihrer Beziehung oft das Gefühl hat, sich selbst aufzugeben, um Konflikte zu vermeiden. Sie passt sich stark an die Bedürfnisse ihres Partners an und merkt, dass sie dabei ihre eignen Wünsche verdrängt.
Therapeutische Frage: ‚Wenn sie in solchen Momenten zurückschauen, wie fühlen Sie sich in Ihrer Rolle innerhalb der Beziehung?‘ Die Klientin beschreibt, dass sie sich wie ein Chamäleon verhält. Sie passt sich ständig an, um Harmonie zu wahren, aber dabei verliert sie das Gefühl, wer sie wirklich ist. - Gestaltwandler-Exploration: Ressourcen und Risiken. Der Therapeut führt das Konzept des Gestaltwandlers ein, um die Anpassungsfähigkeit der Klientin als wertvolle Ressource zu benennen. Gleichzeitig wird untersucht, wo diese Flexibilität in einer Selbstaufgabe kippen könnte. Therapeutische Reflexion: ‚Die Fähigkeit, sich in verschiedene Rollen hineinzufühlen und flexibel zu reagieren, ist eine beeindruckende Stärke. Aber manchmal scheint es so, als ob diese Stärke ins Extrem kippt und Sie dabei sich selbst aus den Augen verlieren. Stimmen Sie dem zu?‘ Die Klientin nickt und erzählt, dass sie schon als Kind gelernt hat, Konflikte in der Familie zu entschärfen, indem sie sich unauffällig verhielt und anderen recht gab.
- Arbeit an der gesunden Selbst-Gestalt: In der Therapie wird die Klientin eingeladen, ein konkretes Beispiel aus der Partnerschaft zu schildern, in dem sie sich ‚aufgelöst‘ fühlte. Gemeinsam wird eine alternative, selbstbewusste Haltung erarbeitet:
Therapeutische Übung: Die Klientin stellt sich vor, wie sie in der besagten Situation anders reagiert hätte – mit klaren, authentischen Grenzen.
Sie beschreibt, wie sich ihr Körper anfühlt, wenn sie in dieser neuen Gestalt handelt. Rückfrage des Therapeuten: ‚Wenn Sie sich selbst in dieser neuen Form erleben, was nehmen Sie wahr? Wie fühlt sich diese Version von Ihnen an?‘
Integration der Wandlungsfähigkeit: Die Klientin erkennt, dass ihre Anpassungsfähigkeit eine hilfreiche Eigenschaft bleibt, solange sie diese bewusst steuert. Der Therapeut schlägt vor, dass sie eine innere Checkliste entwickelt: Wann entscheide ich mich für Anpassung, und wann schadet sie mir?
Hausaufgabe: Die Klientin soll in der nächsten Woche eine Situation notieren, in der sie bewusst entschieden hat, sich anzupassen, und eine, in der sie bewusst bei sich geblieben ist. - Abschluss: der flexible, bewusste Gestaltwandler: Nach einigen Wochen reflektiert die Klientin:
Sie sieht sich nun als eine Gestaltwandlerin, die ihre Fähigkeiten zur Anpassung bewusst und gezielt einsetzt. Sie erkennt, dass sie ihre eigene Gestalt nicht verlieren muss, sondern diese bewusst gestalten kann.
Therapeutischer Anker: Therapeut:‚Sie haben entdeckt, wie Sie Ihre Flexibilität bewahren und gleichzeitig für sich einstehen können. Welche Erinnerungen oder inneren Bilder können Ihnen helfen, diese Balance zu halten, wenn es schwierig wird?‘
Der Begriff des Gestaltwandlers ist vielseitig interpretierbar und kann daher auch in der Psychotherapie kreativ, produktiv und effizient fruchtbar gemacht werden. Gerade als Metapher für Veränderung und Anpassung stellt er ein wertvolles Werkzeug dar für die psychotherapeutische Praxis, um individuelle Entwicklungsprozesse zu unterstützen und Transformation zu ermöglichen.
Inspiration:
- Cornelia Funke in: (www.shz.de/deutschland-welt/panorama/artikel/cornelia-funke-im-interview-mut-magie-und-ein-wiedersehen-48057099).
- www.spektrum.de/lexikon/psychologie/gestaltwandel/5896
- Bilder: KI-generiert. ChatGPT