Eine toxische Beziehung endet nie, es sei denn, man zeichnet rote Linien: Fallbeispiel: Annette R., 60 Jahre – Der Weg aus der emotionalen Abhängigkeit
Anamnese und Hintergrund
Bettina F., 54 Jahre alt, verheiratet, eine erwachsene Tochter, sucht therapeutische Unterstützung, weil sie sich in einem „Gefängnis aus Schuld und Pflicht“ gefangen fühlt. Trotz ihres Alters hat sie das Gefühl, nie wirklich unabhängig von ihrer Mutter gewesen zu sein. Annette beschreibt ihre Mutter, Gerda, 79 Jahre, als emotional fordernd, launenhaft und manipulierend. Bei Konflikten oder wenn Bettina Grenzen setzen möchte, reagiert Gerda häufig mit „Krankheiten“ oder dramatischen Schilderungen ihres Leidens, was Bettina dazu bringt, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen.
Bettina berichtet von starker innerer Zerrissenheit: Sie empfindet ihre Mutter als anstrengend, verspürt aber gleichzeitig eine überwältigende Schuld, wenn sie sich zurückzieht. Ihr Alltag ist geprägt von der ständigen Angst, ihre Mutter zu enttäuschen oder allein zu lassen.
![Bis hierher und nicht weiter](https://psycho-med-news.de/wp-content/uploads/2024/12/Bis-hierher-und-nicht-weiter.jpg)
Rückblickend schildert Bettina eine Kindheit, in der sie für das emotionale Wohlergehen ihrer Mutter verantwortlich gemacht wurde. Hertas narzisstische Züge zeigten sich in ständigen Selbstmitleidsbekundungen und Forderungen nach Bestätigung. Bettina wurde häufig als „undankbar“ oder „egoistisch“ bezeichnet, wenn sie eigene Wünsche äußerte. Dieses Muster führte dazu, dass Bettina früh lernte, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken, um Harmonie zu bewahren und ihre Mutter nicht zu „verlieren“.
Diagnostik und Problemstellung
Die toxische Mutter-Tochter-Beziehung ist durch Hertas vulnerablen Narzissmus geprägt. Dieser äußert sich in übersteigerter Sensibilität gegenüber Zurückweisung, dem Bedürfnis nach Bestätigung und emotionalen Manipulationen. Bettina zeigt Symptome emotionaler Abhängigkeit, eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung und ein stark ausgeprägtes Gefühl von Verantwortlichkeit. Die daraus resultierenden Konflikte haben zu psychosomatischen Beschwerden geführt, darunter Schlafstörungen, chronische Rückenschmerzen und episodische depressive Verstimmungen.
Therapieansatz
Die Therapie kombiniert Ansätze der Schematherapie, insbesondere für die Aufarbeitung der Beziehungsmuster, mit der Arbeit am inneren Kind nach Stefanie Stahl. Ziel ist es, Bettina zu helfen, die emotionale Abhängigkeit zu lösen, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und gesunde Grenzen zu setzen. Hierbei wird Bettina vermittelt, dass eine toxische Beziehung nie endet, es sei denn, man zeichnet die rote Linie: ‚Bis hierher und nicht weiter.‘
Therapieprozess
Aufdeckung von Mustern und Glaubenssätzen
In den ersten Sitzungen wird ein Fokus darauf gelegt, dass Bettina sich ihrer destruktiven inneren Glaubenssätze bewusst wird. Besonders prägnant sind:
- „Ich bin nur gut genug, wenn ich mich um meine Mutter kümmere.“
- „Meine Mutter braucht mich, sonst wird sie krank.“
- „Es ist egoistisch, auf mich selbst zu achten.“
Durch das Aufzeichnen typischer Interaktionen mit Hilde erkennt Bettina, dass ihre Reaktionen auf die Manipulationen der Mutter tief in Kindheitserfahrungen verwurzelt sind.
Arbeit mit dem inneren Kind
Bettina wird behutsam in die Arbeit mit ihrem inneren Kind eingeführt. Sie identifiziert zwei zentrale Kindanteile:
- Das verletzte Kind: Ein Mädchen, das Angst vor Ablehnung hat und glaubt, für das Wohlergehen der Mutter verantwortlich zu sein.
- Das kämpfende Kind: Eine rebellische Seite, die in Konfliktsituationen aufkommt, aber häufig unterdrückt wird.
In Imaginationsübungen trifft Bettina ihr verletztes Kind: ein kleines Mädchen, das traurig in einem dunklen Raum sitzt und sich nach Trost sehnt. Sie lernt, in diesen Momenten als ihre „erwachsene Bettina“ zu handeln und das Kind zu beruhigen, indem sie liebevolle und stärkende Worte spricht.
Grenzen setzen und Schuldgefühle überwinden
Ein zentrales Ziel der Therapie ist es, Bettina zu befähigen, gesunde Grenzen zu setzen, ohne von Schuldgefühlen überwältigt zu werden. Mit Unterstützung der Therapeutin übt Bettina, wie sie Gerda klare und respektvolle Grenzen kommunizieren kann, z. B.: „Ich werde diese Woche nicht kommen, weil ich Zeit für mich brauche.“
Nach der ersten Umsetzung dieser Strategie reagierte Gerda wie erwartet mit einem „Zusammenbruch“ und Vorwürfen („Wie kannst du mich so alleine lassen?“). In einer Sitzung verarbeitet Bettina ihre aufkommenden Schuldgefühle, indem sie erkennt, dass die emotionale Reaktion ihrer Mutter nicht ihre Verantwortung ist. Das Verinnerlichen der roten Linie „bis hierher und nicht weiter“ wird zu einem zentralen Punkt ihrer Heilung.
Entwicklung eines „inneren Beschützers“
Neben der Heilung des inneren Kindes wird ein neuer innerer Anteil gestärkt: der „Beschützer“. Bettina stellt sich diesen Beschützer als starke, selbstbewusste Frau vor, die für das verletzte Kind einsteht und dessen Bedürfnisse wahrt. Durch diese Visualisierung gelingt es ihr zunehmend, ihre inneren Konflikte zu regulieren.
Bearbeitung von Trauer und Akzeptanz
Ein schwieriger, aber zentraler Teil der Therapie ist die Trauerarbeit. Bettina muss anerkennen, dass sie von ihrer Mutter nie die unbedingte Liebe und Unterstützung erhalten hat, die sie sich als Kind gewünscht hatte. Diese Einsicht löst zunächst große Traurigkeit aus, gibt Bettina aber auch die Freiheit, sich auf sich selbst zu konzentrieren und nicht mehr auf die Bestätigung der Mutter zu hoffen.
Förderung von Selbstfürsorge und Autonomie
In der letzten Phase der Therapie entwickelt Bettina konkrete Rituale der Selbstfürsorge: tägliche Spaziergänge, das Führen eines „Erfolgsjournals“ und das bewusste Einplanen von Zeit für ihre Hobbys (Gartenarbeit und Aquarellmalerei). Sie beginnt außerdem, ihrer Ehe und ihren Freundschaften mehr Aufmerksamkeit zu widmen, was ihr erlaubt, erfüllende Beziehungen außerhalb der Mutter-Tochter-Dynamik zu erleben.
Therapieergebnis
Nach einem Jahr intensiver Therapie berichtet Bettina von deutlichen Fortschritten. Sie hat gelernt, ihre Beziehung zu ihrer Mutter aus einer neuen Perspektive zu betrachten: „Ich liebe sie, aber ich kann ihre Probleme nicht lösen.“ Die Abhängigkeit hat sich gelöst, und Annette kann ihre Mutter besuchen, ohne sich verpflichtet zu fühlen, alle Erwartungen zu erfüllen.
Ein Schlüsselmoment war, als Bettina in einer Imaginationsübung ihrem inneren Kind sagte: „Ich bin jetzt für dich da, wir sind jetzt Eines.“ Dieses neue Selbstverständnis ermöglichte ihr, eine klare Abgrenzung zu schaffen und endlich ihr eigenes Leben zu leben. Indem sie die rote Linie zog, hat sie die toxische Dynamik durchbrochen und ihre Freiheit wiedererlangt.