„Der Krieg ist der Vater aller Dinge“: Dieser Satz geht auf den antiken griechischen Philosophen Heraklit (520-460 v.Chr.) zurück. Polemos panton men pater esti‘ – wörtlich: ‚Der Krieg ist der Vater aller Dinge‘. Aber Heralklits ‚polemos‘ ist nicht nur im wörtlichen Sinn als rein militärischer Krieg zu verstehen. Es ist eher der Kampf, das Spannungsverhältnis, der Widerstreit der Gegensätze, der allem Sein zugrunde liegt – also das Ur-Prinzip des Werdens und Vergehens. Es ist das kosmische Prinzip, dass die Gegensätze, Spannungen, Kämpfe zum Ursprung aller Ordnung und aller Vielfalt werden lassen. Deshalb argumentieren viele, dass der Begriff ‚Krieg‘ hier zu wörtlich übersetzt wurde und den philosophischen Gehalt verkürzt.

Bild von Flavio Botana auf Pixabay
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Es geschieht ebenso mit dem Begriff des ‚dschihad‘ im Islam. Es ist sowohl der Kampf im eigenen Inneren des Menschen als sogenannter ‚kleiner dschihad‘ als der Kampf gegen die Versuchung die Gebote zu übertreten, als auch der gewalttätig militärische Kampf gegen Andersgläubige als sogenannter ‚großer dschihad‘. Begriffe dieser Art stehen sowohl einem freien Gebrauch als auch einem noch freieren Missbrauch offen.

Platon (428 -348 v.Chr.) übernimmt diesen Grundgedanken und sieht den Dialog als intellektuelles Gefecht in quasi geistigen Arenen. Er lässt und begreifen, dass Erkenntnis kein Geschenk ist, sondern das Ergebnis eines Konflikts der Argumente.

Für Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831) ist der Konflikt nicht bloß Methode, sondern Wesen des Weltprozesses. Die Dialektik – der Widerstreit von These, Antithese, Synthese – ist Herzschlag der historischen Entwicklung. Jeder Zustand trägt seinen eigenen Widerspruch in sich und zwingt zur Überwindung. Der Geist entfaltet sich, weil er auf Widerstand, Widerspruch stößt, Freiheit wird in Kriegen, Revolutionen und Krisen erstritten. Das sogenannte ‚Absolute‘, was immer dies sein mag, entwickelt sich im permanenten Vergehen und Werden.

Für Friedrich Nietzsche (1844-1900) ist Kampf nicht nur unvermeidlich, er ist wertvoll. Der ‚Wille zur Macht‘ ist ein metaphysisches Grundprinzip, das durch den Kampf reale Gestalt annimmt. Alles Lebendige behauptet sich im Konflikt, der Mensch wird zum Krieger seiner eigenen Existenz. Der Krieg wird nicht als physische Gewalt gesehen, sondern als innerer Kampf, als schöpferisches Aufbäumen gegen das Gegebene.

Karl Marx (1818-1883) liest die Geschichte als eine Geschichte von Konflikten und Kämpfen – konkret: von Klassenkämpfen. Er sieht die Gesellschaft als ökonomisches System von Ausbeutern und Ausgebeuteten. Die Emanzipation der Menschheit entsteht beim Individuum durch Bildung und für die Gesellschaft durch den sozialen Kampf, durch Revolution. Erst der Bruch, der Sturz der alten kapitalistischen Verhältnisse öffnet den Weg zur befreiten Gesellschaft im Sozialismus und Kommunismus.

In der Soziologie des 20. Jahrhunderts greift Ralf Dahrendorf (1929-2009) diese Idee auf und säkularisiert sie. Seine Konflikttheorie verabschiedet sich vom Gedanken einer harmonischen Gesellschaftsordnung. Konflikt ist nicht pathologisch, sondern strukturimmanent. Gesellschaften sind von Machtverhältnissen durchzogen, in denen Interessengruppen unweigerlich aneinandergeraten. Stabilität entsteht nicht durch Unterdrückung von Konflikten, sondern durch ihre Institutionalisierung – durch rechtlich abgesicherte Austragungsformen, die Wandel ermöglichen. Fortschritt bleibt ein Produkt des sozialen Ringens. In der BRD ist die Form der Tarifautonomie mit den gesetzlich geregelten Bedingungen des Streikrechts und der möglichen Aussperrung ein Beispiel.

Die Vorstellung, dass Frieden ein Hindernis zum Fortschritt darstellt, stellt einen provokanten Gegensatz zu weitverbreiteten und liebgewonnenen Vorstellungen dar. Traditionell wird Frieden als wünschenswerter Zustand betrachtet, der Sicherheit, Stabilität und Wohlstand fördert. Doch angesichts zahlreicher historischer und philosophischer Betrachtungen erscheint es lohnend, die These zu untersuchen, dass Konflikt und Konkurrenz wesentliche Katalysatoren für Innovation und gesellschaftlichen Wandel sind.  Ein Blick aus definitorischer, historischer, philosophischer, gesellschafts- und wirtschaftspsychologischer sowie aus der Sicht der individuellen Psychodynamik kann zum generellen Verständnis des konflikttheoretischen Modells beitragen.

Frieden wird oft als ein Zustand der Abwesenheit von offenem Krieg, Gewalt und tiefgreifenden sozialen Unruhen verstanden. Er impliziert Stabilität, verlässliche Institutionen und ein gewisses Maß an Konsens in gesellschaftlichen Normen.

Fortschritt hingegen umfasst technologische, wissenschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklungen. Fortschritt bedeutet nicht nur die Erweiterung von Wissen und Fähigkeiten, sondern auch die Fähigkeit, bestehende Strukturen zu hinterfragen und neu zu gestalten.

Fortschritt benötigt häufig Impulse, die bestehende Ordnung in Frage zu stellen – Impulse, die aus Konflikten und Auseinandersetzungen erwachsen können.

Zahlreiche bahnbrechende Entwicklungen fanden ihren Ursprung in krisenhaften oder konfliktreichen Zeiten. Beispielsweise haben militärische Auseinandersetzungen – sei es im Ersten und Zweiten Weltkrieg oder im Kalten Krieg – enorme Ressourcen in Forschung und Entwicklung mobilisiert. Technologien wie das Internet, die Raumfahrt oder moderne Medizintechniken wurden maßgeblich durch den Wettlauf der Nationen vorangetrieben.

Konflikte und revolutionäre Auseinandersetzungen haben immer wieder zu radikalen gesellschaftlichen Umgestaltungen geführt. Der Druck von sozialen und politischen Krisen hat in vielen Fällen etablierte Machtstrukturen aufgebrochen und den Weg für Reformen, demokratische Entwicklungen oder gar gesellschaftliche Erneuerung geebnet. Krisen und Konflikte können nicht nur Zerstörung, sondern auch einen tiefgreifenden Innovations- und Erneuerungsprozess auslösen.

Gesellschafts- und wirtschaftspsychologisch gesehen neigen in stabilen Friedenszeiten Gesellschaften oft dazu, auf bewährte Strukturen und Prozesse zu setzen. Diese Stabilität bietet zwar Sicherheit, kann aber auch zu einer Risikoscheu führen, in der radikale Neuerungen vermieden werden.  Wirtschaftliche Innovation hingegen profitiert oft von Wettbewerb und dem Druck, sich gegen Konkurrenten durchzusetzen. Wettbewerb – ob auf wirtschaftlicher, politischer oder technologischer Ebene – fördert kontinuierliche Anpassungen und Verbesserungen. Ohne den Druck, sich behaupten zu müssen, besteht die Gefahr, dass Innovationen langsamer voranschreiten oder gar erstarrt werden.  Dauerhafter Frieden kann zu festgefahrenen Machtstrukturen führen, die Veränderungen hemmen. Institutionen, die sich über lange Zeiträume bewährt haben, werden oft unkritisch weitergeführt, selbst wenn sie nicht mehr zeitgemäß sind. Der fehlende Reiz des Umbruchs kann somit auch zu einem Rückgang kreativer Impulse führen.

In der Individuellen Psychodynamik spielt die Herausforderung an das Individuum eine wesentliche Rolle. Konflikte fördern persönliche Motivation und die Entwicklung von Kreativität und Innovation. Herausforderungen, sei es in Form von beruflichen, persönlichen oder gesellschaftlichen Krisen, regen zur Selbstreflexion und Neuorientierung an.  Der Umgang mit Schwierigkeiten fördert die Resilienz – die Fähigkeit, gestärkt aus Krisen hervorzugehen. Wer in einem konfliktfreien Umfeld lebt, läuft Gefahr, sich in Komfortzonen zu verlieren, in denen keine Anreize zur persönlichen Weiterentwicklung bestehen.  Während Frieden Sicherheit und Wohlstand ermöglicht, kann er zugleich zu einer mentalen und emotionalen Verhärtung und geistiger Trägheit führen, in der der drang zur Selbsttranszendenz und zum kreativen Bruch mit Konventionen verloren geht.

Die gut begründbare und gut begründete Annahme, dass Frieden ein Hindernis zum Fortschritt darstellt, fordert dazu auf, die gängige Vorstellung von Fortschritt und Stabilität zu hinterfragen. Konflikt, Widerstand und Auseinandersetzung haben historisch und philosophisch den Nährboden für Innovation und gesellschaftlichen Wandel gebildet. Dabei gilt es jedoch, eine Balance zu finden: Der Fortschritt, der aus Konflikten hervorgeht, ist oft mit Leid, Zerstörung und Verlust verbunden. Ein Zustand, in dem ausschließlich Konflikt herrscht, wäre weder nachhaltig noch wünschenswert.

Vielmehr kann argumentiert werden, dass der Fortschritt dort blüht, wo es gelingt, konfliktgeladene Impulse in konstruktive, transformative Prozesse umzuwandeln. Der Schlüssel liegt in der Fähigkeit, Spannungen als Antriebskraft zu erkennen und gleichzeitig den Schaden zu minimieren, der durch unkontrollierte Konflikte entstehen kann. Friedensphasen sollten nicht als Stillstand, sondern als Phasen der Integration, Konsolidierung und Reflexion verstanden werden, in denen aus den zuvor gewonnenen Impulsen neue Wege für den Fortschritt erarbeitet werden.

Frieden, wenn er als absoluter Zustand verstanden wird, kann durchaus als Hindernis für den Fortschritt interpretiert werden. Fortschritt gedeiht durch das Ringen mit dem Status quo, den Wettbewerb und die Herausforderungen, die Konflikte mit sich bringen. Allerdings muss die Diskussion differenziert geführt werden: Fortschritt, der aus destruktiven Konflikten erwächst, darf nicht über den Preis menschlichen Leidens hinwegsehen. Es gilt daher, Wege zu finden, die innovationsfördernde Impulse von Konflikten zu nutzen, ohne die negativen Folgen eines dauerhaften Kriegszustands in Kauf zu nehmen.

Die Herausforderung besteht darin, einen dynamischen Wandel zu ermöglichen, der sowohl Sicherheit als auch den notwendigen Wettbewerb und die kritische Auseinandersetzung fördert – ein Spannungsfeld, in dem Fortschritt gedeiht, ohne dass der Frieden vollständig aufgegeben werden muss.

Inspiration: Lektüre von: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Reclams Universal-Bibliothek, Band 14382.