Selbsttäuschung statt Fehlannahme

Es ist nicht nur eine Fehlannahme, es ist eine Selbsttäuschung anzunehmen, dass Frieden im individuellen Leben, innerhalb von Gesellschaften sowie zwischen Staaten der natürliche, allgegenwärtige Zustand ist. Tatsächlich ist es der Ausnahmezustand. Konflikte, Kämpfe und Kriege sind die eigentlichen und normalen Modalitäten den individuellen, gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Beziehungen. Friede, so wertvoll er auch sein mag, ist immer das Ergebnis bewusster, oft mühsamer Anstrengungen, die den inhärenten Tendenzen zum Konflikt entgegenwirken.

Der Naturzustand des Menschen

Bereits Thomas Hobbes argumentierte, dass der Mensch im Naturzustand im Krieg aller gegen alle lebt. Ohne eine übergeordnete Ordnung oder eines übergeordneten Souveräns, der als Garant für Sicherheit und Ordnung fungiert, würden egoistische Triebe und das Streben nach Macht zwangsläufig zu Konflikten, zu Kämpfen führen. Hobbes legt also nahe, dass Gewalt und Kampf in der menschlichen Natur verankert sind und erst durch gesellschaftliche Verträge und Institutionen gezähmt und kontrolliert werden können.

Hegels Dialektik

Hegel lehrt in seiner Dialektik, dass Widersprüche und Konflikte notwendige Impulse für den Fortschritt sind. Im ständigen Wechselspiel von These, Antithese und sich anschließender Synthese entstehen neue Denk- und Handlungsweisen. Aus dieser Sicht ist der Konflikt nicht ausschließlich destruktiv, sondern kann auch als Motor für Entwicklung und Veränderung verstanden werden.

Jean-Paul Sartre und der Existenzialismus

Was den innerpersönlichen Konflikt betrifft, betont Jean-Paul Sartre als Existenzialist, dass der Mensch ständig zwischen Freiheit und der Bürde der Verantwortung oszilliert. Diese Spannung erzeugt innere Konflikte, die sich auch in der Art und Weise widerspiegeln, wie Individuen und Gesellschaft miteinander umgehen. Der existenzielle Kampf um Selbstbestimmung und Authentizität ist somit ein Spiegelbild des äußeren Konflikts, der die zwischenmenschlichen Beziehungen prägt.

Immanuel Kants Idee vom ‚ewigen Frieden

In seinem Konzept des ‚ewigen Friedens‘ formuliert Immanuel Kant den Frieden als ein Ideal und als Ergebnis von Vernunft, gegenseitiger Achtung und moralischer Gesetzgebung. Gerade weil die menschliche Natur zu Konflikten tendiert, muss der Frieden ständig erkämpft und verteidigt werden. Frieden ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Resultat ethischer und moralischer Anstrengungen, die über das bloße Vorhandensein und Funktionieren einer Macht oder eines Markts hinausgehen.

Der Friede als moralische Kategorie

Im moralethischen Diskurs wird der Frieden häufig als höchste Form des Zusammenlebens dargestellt. Gleichzeitig wirft aber die Erkenntnis, dass der Konflikt aber die Normalität ist, die Frage auf, welche Opfer gebracht werden müssen, um einen dauerhaften Frieden zu erreichen. Es erfordert den Verzicht auf egoistische Interessen und die Bereitschaft, Ungerechtigkeiten und Machtmissbrauch zu bekämpfen.

Religionen als Friedensstifter?

Obwohl viele Kulturen und Religionen den Frieden hochhalten, zeigt sich im Alltag, dass Menschen auch zu aggressivem und kompetitivem Verhalten neigen. Dieser Widerspruch zwischen Ideal und Realität fordert dazu auf, moralische Theorien nicht nur als abstrakte Konzepte zu betrachten, sondern als Handlungsanleitungen, die im ständigen Spannungsfeld zwischen Selbstinteresse und Gemeinwohl bestehen. Dies gilt für das Individuum, die Gesellschaft, in der es lebt, als auch zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und zwischen den Staaten.

Der Kampf im und ums Selbst

Der Konflikt ist der menschlichen Natur inhärent und zeigt sich in der Ambivalenz des Selbst. Jeder Mensch lebt mit widersprüchlichen inneren Impulsen. Freuds Theorien, die den Menschen von inneren Trieben wie Aggression und Sexualität getrieben sehen, veranschaulichen, dass innere Konflikte eine Grundvoraussetzung für die psychische Entwicklung darstellen. Dieser innere Kampf ist ein Mikrokosmos des äußeren Konflikts, der sich in persönlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Interaktionen widerspiegelt.

Der Konflikt als Quelle der Selbstentwicklung und Reifung

Die Suche des Individuums nach einer konsistenten Identität verläuft oft in einem Spannungsfeld zwischen Anpassung und Abgrenzung. Die individuelle Entwicklung ist geprägt von Auseinandersetzungen mit sozialen Normen und Erwartungen, was häufig zu inneren Konflikten führt. Diese Auseinandersetzungen sind nicht nur pathologisch zu verstehen, sondern auch als notwendiger Bestandteil der persönlichen Reifung, in der der Mensch lernt, mit Ambivalenzen umzugehen und Schritt für Schritt sein persönliches Maß an Resilienz zu entwickeln. Es ist die Fähigkeit, innere Spannungen zu bewältigen und gestärkt aus dem Spannungszustand hervorzugehen. Individuen, die lernen, mit ihren eigenen Konflikten konstruktiv umzugehen, können auch in einem von Wettbewerb und Auseinandersetzung geprägten Umfeld inneren Frieden und Kontrolle bewahren. Dieser Prozess unterstreicht, dass der innere Frieden, der Frieden mit sich selbst, durch die bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen inneren Widerständen als Konfliktfaktoren erreichbar ist.

Die Gesellschaft als Konfliktfeld verstehen

Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene werden die Konflikte oft durch Machtkämpfe und den Wettbewerb um begrenzte Ressourcen charakterisiert. Tarifauseinandersetzungen und andere Formen von Verteilungskämpfe stellen nur ein Beispiel dar. Die Konflikttheorien, etwa im Sinne von Karl Marx, verdeutlichen, dass Klassenkämpfe und ökonomische Ungleichheiten zu ständigen Spannungen führen. Hier zeigt sich, dass der Normalzustand einer Gesellschaft nicht der harmonische Frieden, sondern der fortwährende Konflikt ist, in dem unterschiedliche Interessen aufeinanderprallen.

Das globale politische System in der Anarchie

Ähnlich stellt es sich auf der Ebene der internationalen Beziehungen dar. Auch zwischen Staaten dominieren Konflikt und Konkurrenz. Realistische Theorien in der internationalen Politik postulieren, dass Staaten ein einem anarchischen System agieren, in dem es kein übergeordnetes Gewaltmonopol gibt. Jeder Staat verfolgt primär eigene Interessen, was zu einem ständigen Ringen um Macht und Einfluss führt. Friedensphasen sind in diesem Kontext oft das Ergebnis temporärer Allianzen, diplomatischer Verhandlungen oder strategischer Zugeständnisse.

Narrative prägen das Denken und die Wahrnehmung

Die Wahrnehmung von Krise, Konflikt, Krieg und Frieden wird auch durch kulturelle und historische Narrative geprägt. Gesellschaften konstruieren Erzählungen, in denen Konflikte nicht nur als unvermeidlich, sondern teilweise auch als notwendig für den Fortschritt dargestellt werden. Solche Narrative tragen dazu bei, dass der Kampf um die eigene Identität und Macht als normal und oft als gerechtfertigt empfunden wird. Wer denkt hier nicht an die berühmt-berüchtigte ‚deutsch-französische Erbfeindschaft‘ mit den Kriegen von 1870/71, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg

Konflikt und Kampf als Tiefenstruktur aller Interkationen

Die bisherigen Betrachtungen aus den unterschiedlichen Disziplinen und Perspektiven legen nahe, dass Krise, Konflikt, Kampf und Krieg tief in der menschlichen Natur, in den sozialen Beziehungen und in supra- und internationalen Strukturen verankert sind. Frieden ist demnach nicht der Standard, sondern ein Ausnahmezustand, der durch bewusste Anstrengungen, moralischen Überzeugungen und institutionellen Regelungen herbeigeführt wird. Dieser Zustand des Friedens ist fragil und stets im Fluss, da er immer wieder den natürlichen Tendenzen des Menschen, seiner sozialen und politischen Systeme und den zum Teil willkürlichen und irrationalen Entscheidungen ihrer Führer zu widersprechen hat.

Die Notwendigkeit von Einsicht und Willen zum Frieden

Die Einsicht, dass der Frieden immer erkämpft werden muss, sollte als Ansporn verstanden werden, die Mechanismen von Konflikt und Machtkampf zu erkennen und gezielt entgegenzuwirken. Institutionen, Bildung und eine Kultur der Empathie und des Dialogs sind dabei essenzielle Faktoren, um den Ausnahmezustand Frieden langfristig zu sichern und auszubauen. Voraussetzung ist aber, dass alle Akteure ihr Handeln unter die Prämisse der Friedenssuche und Friedensetablierung stellen. Ist ein Führer oder eine Elite gleich aus welchen Gründen auf Krieg aus, wird es niemandem gelingen, ihn oder sie davon abzubringen. Ein Verhalten, geprägt von Appeasement, kann den gewaltsamen Ausbruch eines Konflikts vielleicht hinausschieben, verhindern kann er aber nicht werden.

Konflikt als Realität – Frieden als Idee und Idea

In einer grundsätzlich konfliktgeprägten Welt ist der Frieden als Ausnahmezustand zu verstehen. Während der natürliche Zustand des Menschen und der Gesellschaft durch Konflikt, Wettbewerb und Machtkämpfe bestimmt wird, stellt der Frieden ein Ideal dar, das nur durch kontinuierliche Anstrengung und bewusste Gestaltung sozialer Ordnungen erreicht werden kann. Frieden darf nicht als Selbstverständlichkeit betrachtet werden, sondern als ein dynamisches, fragiles und stets neu auszuhandelndes Gut – eine Errungenschaft, die in ihrer Pflege und Aufrechterhaltung höchste Wachsamkeit und Engagement erfordert.