Es geht hier um ein Thema, das fast jede und jeden betrifft – ob bewusst oder im Hintergrund: Sexualität, Lust und die Bilder, die wir darüber mit uns tragen.
Insbesondere soll ein weit verbreiteter Mythos untersucht werden, der lautet: „Der Mann möchte immer – die Frau könnte immer.“ Diese Vorstellung klingt für viele vertraut – aber sie hat weitreichende Folgen.
Was ist dran an diesem Bild? Woher stammt es? Wie wirkt es sich auf Beziehungen aus? Und wie können wir respektvoll und offen mit unterschiedlichen sexuellen Bedürfnissen umgehen?

Ein Mythos mit Geschichte. Die Annahme, Männer hätten ein dauerhaft hohes sexuelles Verlangen, während Frauen jederzeit zum Sex bereit sein könnten, wenn sie nur wollten, ist kein modernes Phänomen. Sie wurzelt tief in kulturellen, religiösen und sozialen Vorstellungen, die über Jahrhunderte tradiert wurden. In der westlichen Welt hat sich ein Bild verfestigt: Männer gelten als triebgesteuert, aktiv, fordernd – Frauen dagegen als passiv, emotional, aber grundsätzlich verfügbar, wenn sie den richtigen Rahmen erhalten.
Diese Rollenbilder werden nicht nur durch Erziehung geprägt, sondern auch durch Sprache, Werbung, Filme und sogar Witze. Sie tragen dazu bei, dass viele Menschen mit falschen Erwartungen an sich selbst oder an ihre Partnerinnen und Partner herantreten.
Wissenschaftliche Perspektiven: Was sagen Körper und Geist?
Tatsächlich gibt es biologische Unterschiede, etwa beim Hormonhaushalt. Das Sexualhormon Testosteron, das bei Männern in höherer Konzentration vorkommt, spielt eine Rolle für das sexuelle Begehren. Aber daraus abzuleiten, dass Männer „immer wollen“, wäre ein grobes Missverständnis. Denn sexuelles Verlangen ist nicht allein eine Frage der Hormone, sondern hochgradig beeinflusst von psychischen, sozialen und situativen Faktoren.
Stress, Erschöpfung, emotionale Spannungen, Beziehungskonflikte oder Medikamente wirken auf Männer genauso hemmend wie auf Frauen. In zahlreichen Studien geben viele Männer an, sich in bestimmten Phasen ihres Lebens wenig oder gar nicht sexuell motiviert zu fühlen – obwohl sie das Gefühl haben, sie müssten es sein. Frauen wiederum erleben durchaus intensive sexuelle Lust, häufig jedoch in engerem Zusammenhang mit emotionaler Verbundenheit, Wohlbefinden oder körperlichem Selbstbild. Auch sie „wollen“ oft – nur nicht immer unter denselben Bedingungen wie Männer. Die Aussage „die Frau könnte immer“ verkennt diesen Zusammenhang und reduziert Sexualität auf mechanische Verfügbarkeit, was auch für Frauen selbst belastend sein kann.
Wenn der Mythos das Denken prägt
Wer an diesem Mythos festhält – bewusst oder unbewusst – gerät leicht unter Druck. Männer, die einmal keine Lust empfinden, fühlen sich womöglich unzulänglich oder „nicht männlich genug“. Sie schweigen über ihre Bedürfnisse, verbergen ihre Erschöpfung oder spielen ein sexuelles Verlangen vor, das sie nicht empfinden.
Frauen hingegen geraten durch die Vorstellung, sie könnten theoretisch jederzeit zur Sexualität bereit sein, in einen anderen Druck: den der ständigen Verfügbarkeit. Viele Frauen stellen dann nicht ihre Lust infrage, sondern ihre Attraktivität, ihre „Normalität“, oder sogar ihre Liebesfähigkeit – besonders dann, wenn der Partner scheinbar ständig sexuelles Interesse zeigt.
In Beziehungen kann dieser Druck auf beiden Seiten zu Missverständnissen führen. Aus einem ehrlichen „Ich will heute nicht“ wird ein „Du willst mich wohl nicht mehr“. Aus einem Rückzug wird ein Beziehungskonflikt. Der Mythos führt nicht zu mehr Intimität, sondern eher zu Schweigen, Vorwürfen oder Entfremdung.
Wie ein neuer Umgang möglich wird.
Der Schlüssel liegt in der offenen und ehrlichen Kommunikation. Wer in einer Beziehung lebt, sollte sich regelmäßig fragen: Haben wir einen Raum, in dem wir auch über unsere Unsicherheiten, unsere Bedürfnisse oder unsere Veränderungen sprechen können? Sexualität ist nicht statisch. Sie verändert sich mit dem Lebensalter, mit der Beziehung, mit dem Körper und mit den Umständen des Lebens. Sich diese Veränderung einzugestehen und gemeinsam zu gestalten, ist ein Zeichen von Reife – nicht von Schwäche. Auch ist es hilfreich, den Begriff von Sexualität zu erweitern. Es geht nicht nur um Penetration oder Orgasmus, sondern um Berührung, Nähe, gemeinsame Körperlichkeit, Zärtlichkeit. Lust muss nicht immer spontan da sein – sie kann auch entstehen. Und manchmal entsteht sie gerade dann, wenn der Druck wegfällt.
Einflussfaktoren auf sexuelle Lust.
Wer versteht, dass Lust von vielen Dingen abhängt, kann sich selbst und andere besser annehmen.Zu den wichtigsten Einflussfaktoren gehören: die körperliche Gesundheit, der Hormonhaushalt, das persönliche Stressniveau, Schlafqualität, emotionale Nähe, Beziehungszufriedenheit, erlebte Selbstwirksamkeit, frühere sexuelle Erfahrungen, aber auch ganz praktische Dinge wie Alltagsorganisation oder ungestörte Zeit. Das bedeutet: Wer seine sexuelle Lust hinterfragt, sollte nicht sofort mit Selbstkritik reagieren, sondern erst einmal mit Neugier – und auch mit Selbstfürsorge.
Fragen zur Selbstreflexion in der Partnerschaft.
Hilfreich kann es sein, sich in ruhigen Momenten selbst oder gemeinsam mit dem Partner folgende Fragen zu stellen:
Was bedeutet Sexualität für mich – im Moment, in dieser Lebensphase? Fühle ich mich körperlich und emotional sicher in meiner Beziehung? Wie gut kann ich meine Wünsche äußern? Wie gehen wir mit Unlust um – mit Humor, mit Verständnis, mit Abwehr? Was wünsche ich mir, auch jenseits von Sexualität? Was belastet mich im Alltag? Habe ich Raum für mich selbst?
Solche Fragen fördern nicht nur das gegenseitige Verständnis, sondern helfen auch, ein neues, ehrlicheres Bild von Sexualität zu entwickeln – frei von starren Erwartungen.
Weiterführende Unterstützung und Literatur
Für alle, die sich weiter mit dem Thema beschäftigen möchten, gibt es zahlreiche empfehlenswerte Ressourcen. Bücher wie „Sexuelle Leidenschaft in langen Beziehungen“ von David Schnarch oder „Körperwissen – Körperlust“ von Claudia Haarmann bieten fundierte Einblicke in die Dynamik der Sexualität im Alltag. Wer praktische Unterstützung sucht, kann sich an Beratungsstellen wenden wie z. B. Pro Familia, die Ehe-, Familien- und Lebensberatungen der Kirchen, oder sexualtherapeutische Angebote in größeren Städten. Auch in der Paarberatung wird dieses Thema zunehmend ernst genommen und professionell begleitet – nicht, weil mit einem „etwas nicht stimmt“, sondern weil es ganz normal ist, sich in diesem Bereich weiterentwickeln zu wollen.
Der Mythos „der Mann möchte immer – die Frau könnte immer“ ist eine kulturelle Vereinfachung, die der Vielfalt menschlicher Sexualität nicht gerecht wird. Männer und Frauen sind nicht zwei voneinander getrennte Systeme mit festgelegten Programmen, sondern Menschen mit Bedürfnissen, Empfindungen, Unsicherheiten und Entwicklungsmöglichkeiten. Sexualität ist nicht nur etwas, das man hat oder nicht hat – sie ist ein Prozess. Und wie jeder lebendige Prozess lebt sie von Aufmerksamkeit, Respekt, Offenheit und gegenseitigem Verständnis.
- Inspiration: Gespräche mit Uli
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