Der bibische Avatar: Gott beauftragte Jona, nach Ninive zu gehen und die Stadt vor ihrem bösen Verhalten zu warnen. Jona wollte dieser Aufgabe jedoch entkommen und floh stattdessen auf ein Schiff. Während einer stürmischen Überfahrt warf die Schiffsbesatzung Jona ins Meer, da sie ihn als Ursache des Sturms sah. Dort wurde er von einem großen Fisch (oft als Wal bezeichnet) verschluckt.

Jona verbrachte drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches, betete zu Gott und wurde schließlich an Land ausgespien. Danach erfüllte er Gottes Auftrag und ging nach Ninive. 

Übersetzung ohne den religiösen Hintergrund:  Der moderne Jonas hatte seine eigentliche Bestimmung erkannt. Dieser Bestimmung, sei es die Verwirklichung eines großen Lebenstraums, das Treffen einer lebensverändernden Entscheidung oder die Verabschiedung von Bisherigem, als toxisch Erkanntem.

Furcht vor Neuem, Angst vor dem Unbekannten, entstehende Beziehungsproblematiken mit geliebten Menschen, all dies muss entweder bewältigt werden, oder es fällt der Vermeidung anheim. Jonas geht durch eine Krisenphase, er befindet sich wie sein biblischer Avatar im Dunkeln der Unwissenheit und Unsicherheit im Bauch des großen Fisches.  Es bedarf der Katharsis, um vom Fisch an neuen Ufern ausgespien zu werden.

Eine moderne Geschichte im Geiste von Jona:  Tom ist ein 35-jähriger Softwareentwickler in einer großen Stadt. Er lebt ein scheinbar erfolgreiches Leben: ein gut bezahlter Job, eine schicke Wohnung und ein großes Netzwerk von Bekannten. Doch innerlich spürt er eine wachsende Leere. Immer wieder hat er den Eindruck, dass sein beruflicher Weg nicht zu ihm passt. Seit Jahren träumt er davon, seine kreative Ader zu nutzen und als Grafikdesigner zu arbeiten. Doch der Gedanke, seinen sicheren Job aufzugeben, löst in ihm Angst und Schuldgefühle aus – vor allem gegenüber seinen Eltern, die ihn immer als „Erfolgstyp“ sehen wollten.

Eines Tages erhält Tom eine Einladung zu einem Kreativworkshop. Zunächst ist er begeistert, doch je näher der Termin rückt, desto mehr Zweifel plagen ihn. Statt zum Workshop zu gehen, bucht er spontan eine Reise ans Meer, in der Hoffnung, dort Abstand von seinen Problemen zu gewinnen. Doch kaum ist er dort, fühlt er sich noch unwohler. Ein starker Sturm zieht auf, und Tom wird auf einer Bootstour überrascht. Das kleine Boot kentert, und er treibt hilflos im Wasser, bis er von einem Fischkutter gerettet wird. Während er sich in der engen Kabine des Kutters erholt, hat er viel Zeit zum Nachdenken. Die Erlebnisse auf See zwingen ihn, sich mit seiner Angst vor dem Scheitern auseinanderzusetzen.

Zurück in der Stadt entscheidet sich Tom, professionelle Hilfe zu suchen. Er beginnt eine Therapie bei einer Psychologin, um die Ursachen seiner Selbstzweifel zu verstehen und einen neuen Weg einzuschlagen.

Psychoanalytische Perspektive: Aus psychoanalytischer Sicht könnte Toms Vermeidungsverhalten als Ausdruck innerer Konflikte interpretiert werden. Seine Angst, den sicheren Job aufzugeben, verweist auf unbewusste Loyalitäten gegenüber seinen Eltern und deren Erwartungen. Der Sturm und das Kentern des Bootes symbolisieren eine Konfrontation mit seinem unterdrückten Wunsch nach Selbstverwirklichung. Der „Bauch des Wals“ – hier die Zeit auf dem Fischkutter – steht für eine Phase der Regression und Selbstreflexion, die notwendig ist, um neue Ressourcen zu aktivieren.  Die Therapie würde sich darauf konzentrieren, die Ursprünge dieser inneren Konflikte aufzudecken. Träume, Assoziationen und freie Gespräche würden helfen, verdrängte Bedürfnisse und Ängste ins Bewusstsein zu bringen. Ziel wäre es, Tom zu ermöglichen, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen und sich von den Erwartungen anderer zu lösen.

Systemtheoretisch-psychologische Perspektive:  Aus systemtheoretischer Sicht könnte Toms Situation als Ergebnis dysfunktionaler Muster in seinem sozialen System betrachtet werden. Seine Eltern, Freunde und Kollegen bilden ein Netzwerk von Erwartungen und Rollen, die Tom unbewusst aufrechterhält. Sein Handeln – das Fliehen vor dem Workshop – ist ein Versuch, Spannungen im System zu vermeiden, auch wenn es ihn persönlich belastet. Der Sturm und das Kentern des Bootes stehen hier für eine Störung im System, die notwendig ist, um Veränderung zu ermöglichen.  Ein systemischer Berater würde Tom dabei helfen, die Wechselwirkungen zwischen seinen persönlichen Bedürfnissen und den Erwartungen seines sozialen Umfelds zu erkennen. Durch Aufstellungen, Perspektivwechsel und Gespräche könnte Tom lernen, neue Kommunikations- und Handlungsmuster zu entwickeln, die es ihm erlauben, authentischer zu leben.

Möglicher Therapieverlauf in 5 Schritten:

  1. Schritt: Kennenlernen und Zielsetzung: In den ersten Sitzungen schildert Tom seine Gefühle der Leere und seine Ängste. Der Therapeut erarbeitet gemeinsam mit ihm erste Ziele, wie z. B. das Verstehen seiner inneren Konflikte. 
  • Schritt: Exploration der Vergangenheit: In der psychoanalytischen Phase geht es um die Rolle seiner Eltern und die Entwicklung von Glaubenssätzen („Ich darf nicht scheitern“). Parallel dazu wird im systemischen Ansatz analysiert, wie Toms Umfeld seine Entscheidungen beeinflusst. 
  • Schritt: Konfrontation und Reflexion: Mit Hilfe des Therapeuten setzt sich Tom bewusst mit seinen Ängsten auseinander. Er reflektiert seine Flucht ans Meer und erkennt, dass diese Erfahrung ein Weckruf war. 
  • Schritt: Ressourcenaktivierung: Tom beginnt, kleine Schritte in Richtung seiner Träume zu machen, z. B. den Workshop nachzuholen oder ein Portfolio zu erstellen. Der Therapeut unterstützt ihn dabei, Selbstvertrauen aufzubauen.  
  • Schritt: Integration und Abschluss: Zum Ende der Therapie hat Tom gelernt, Entscheidungen selbstbewusst zu treffen. Er entwickelt Strategien, um künftige Herausforderungen zu meistern, ohne wieder in alte Muster zu verfallen.

Diese moderne Geschichte zeigt, wie alte Symbole wie der „Bauch des Wals“ in neuen Kontexten aufleuchten können. Sie dient als Beispiel dafür, wie Menschen durch Krisen wachsen und ihre innere Wahrheit entdecken können.

Jede Krise birgt das Potenzial, uns zu Wachstum und Veränderung anzuregen. Doch nicht immer erkennen wir dieses Potenzial von selbst. Manchmal braucht es die Perspektive eines anderen – sei es durch Freunde, Familie oder professionelle Hilfe –, um den verborgenen Wert einer schwierigen Situation zu entdecken. Hilfe zu suchen ist dabei kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Akt der Selbstverantwortung und der Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln.