Ein Missverständnis über Tausende von JahrenTeil eines Rechtssatzes aus dem Alten Testament der Bibel:  „Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde. “ (Exodus 21,23–25)

Das ‚Rüsselsheimer Modell‘:  Der ehemalige Direktor des Amtsgerichts Rüsselsheim und Jugendrichter Bernd Diedrich hat  das Prinzip ‚Versöhnung mit dem Gesetz statt Vergeltung‘ in seinem „Rüsselsheimer Modell“ über viele Jahre erfolgreich genutzt.

Dies könnte einer seiner Fälle gewesen sein:

Es war ein kühler Novemberabend in einer Kleinstadt in Deutschland. Die Straßenlaternen warfen lange Schatten auf die verlassenen Gehwege, und die ersten Lichter in den Wohnzimmern flackerten wie stille Zeugnisse des Lebens hinter den Fenstern. Im Jugendzentrum hatte sich eine Gruppe Menschen versammelt, um einen Konflikt zu besprechen, der die Gemeinschaft in den letzten Wochen gespalten hatte.

Alles hatte mit einem zerbrochenen Autofenster begonnen. Paul, ein angesehener Handwerker, hatte sein Auto vor dem Supermarkt geparkt. Als er zurückkam, fand er das Beifahrerfenster eingeschlagen und die teure Sonnenbrille, die er dort immer liegen hatte, war verschwunden. Die Polizei wurde gerufen, aber ohne Zeugen oder brauchbare Hinweise verliefen die Ermittlungen im Sand. Paul war empört und sprach in der Kneipe immer wieder laut von „Recht und Ordnung“. Ein paar Tage später fand man das Auto von Ahmed, einem Jugendlichen aus der Nachbarschaft, mit eingeschlagenen Rückleuchten.

Die Gerüchteküche begann zu brodeln. Ahmed, Sohn eines syrischen Flüchtlings, hatte es ohnehin schwer, sich in der Gemeinde zu integrieren. Einige behaupteten, er hätte Pauls Fenster eingeschlagen, um Geld für Drogen zu beschaffen. Andere verteidigten ihn und nannten die Anschuldigungen unbegründet. Die Stimmung in der Nachbarschaft wurde zunehmend gereizter. Bald darauf eskalierte die Situation: Ahmeds Bruder Malik erwischte Paul, wie er auf dem Parkplatz des Sportplatzes stand, und ging ihn aggressiv an. Es kam zu einem handfesten Streit, bei dem beide Männer verletzt wurden.

Die Polizei griff ein, doch sie konnte die Erregung unter den herbeigeeilten Familienangehörigen nur für den Augenblick unter Kontrolle halten. Die weiterhin erhobenen gegenseitigen Vorwürfe schürten die das Misstrauen im Viertel weiter. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sagte Paul später in einem Interview mit der Lokalzeitung, um sein Handeln zu rechtfertigen. „Man kann sich doch nicht alles gefallen lassen.“

Der Konflikt drohte sogar die gesamte Stadtgemeinschaft zu zerreißen. Einige besonnene Nachbarn beschlossen, einen Schlichtungstermin zu organisieren. Es war Richter D., der pensionierte Richter, der vorschlug, die biblische Grundlage für das sogenannte „Auge um Auge“-Prinzip in den Mittelpunkt zu stellen. „Die meisten wissen nicht, dass es sich hier um ein Gebot der Gerechtigkeit und nicht der Rache handelt,“ erklärte er.

Am Tag der Versammlung saßen sich Paul, Ahmed und Malik im großen Saal des Jugendzentrums gegenüber. Jugendrichter D. begann mit einer ruhigen, aber bestimmten Stimme: „Die Regel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ stammt aus dem Buch Exodus des Alten Testamentes. Sie sollte verhindern, dass nicht Rache das Verhalten und sein Motiv der beteiligten Parteien beherrscht.  Denn so geht jedes Maß verloren und ein Teufelskreis beginnt.  Die Regel besagt, dass wenn ein Unrecht geschieht, darauf mit Maß und Gerechtigkeit reagiert werden soll – nicht mit blindem Hass.“

Paul blickte auf den Boden. Ahmeds Augen funkelten, aber er blieb stumm. Malik verschränkte die Arme, bereit, seinen Bruder zu verteidigen. Richter D. fuhr fort: „Das Ziel ist nicht, dass jeder den gleichen Schmerz erleidet, sondern dass wir gemeinsam einen Weg finden, wie wir Vertrauen wiederherstellen können.“

In den folgenden Stunden wurde nicht nur das Geschehene besprochen, sondern auch die Emotionen, die dahinterstanden. Paul sprach von seinem Gefühl der Ohnmacht und des Kontrollverlusts. Ahmed schilderte die Demütigung, immer wieder als Verdächtiger abgestempelt zu werden. Malik entschuldigte sich für seine Gewaltbereitschaft, als ihm klar wurde, dass er die Situation nur verschlimmert hatte.

Schließlich schlug Herr D. vor, dass Paul und Ahmed und Malik gemeinsam an einem Projekt zur Verschönerung des Jugendzentrums arbeiten sollten. „Wenn ihr beide zusammen etwas aufbaut, zeigt das mehr als Worte, dass ihr bereit seid, Frieden zu schließen.“ Beide stimmten zögernd zu. Wochen später berichtete die Lokalzeitung von der Eröffnung des neu renovierten Jugendzentrums. Paul, Malik und Ahmed standen Seite an Seite und überreichten einer Gruppe von Kindern symbolisch den Schlüssel. Der Konflikt war nicht vergessen, aber die Gemeinschaft hatte gelernt, dass Gerechtigkeit nicht durch Vergeltung, sondern durch Verständnis und Zusammenarbeit erreicht wird.

Eine Spirale der Gewalt brauchte nicht zu entstehen, um vermeintliche Gerechtigkeit in einer letztlich nicht eindeutigen Situation zu etablieren. Das ‚Rüsselsheimer Modell‘ ebnet einen gangbaren Weg, um den Rechtsfrieden wieder herzustellen.

Und was sagt der in Rüsselsheim geborene Anwalt Matthias Janko?

‚Im Jugendstrafrecht steht sprichwörtlich die Zukunft der Jugendlichen bzw. Heranwachsenden auf dem Spiel. Zwar sind die in Betracht kommenden Straftaten mit denen des Erwachsenenstrafrechts identisch (jugendspezifisch sind insofern insbesondere Taten in Zusammenhang mit Betäubungsmitteln/Drogen, Körperverletzung, Diebstahl oder auch Raub). Die Rechtsfolgen des Jugendgerichtgesetzes (”JGG”) könnten allerdings kaum unterschiedlicher sein. Denn das gesamte Verfahren ist am Erziehungsgedanken auszurichten. Das JGG bietet deshalb viele einzigartige Möglichkeiten, auf Jugendliche und Heranwachsende einzuwirken (z.B. mit Erziehungsmaßregeln oder Zuchtmitteln), Rechtsfolgen unter besondere Bewährungsregeln zu stellen oder das Verfahren einzustellen.

Dem Jugendstrafrecht widme ich mich bereits seit meinem universitären Schwerpunktstudium mit Leidenschaft. Ich bin in selbst in Rüsselsheim am Main aufgewachsen, einer Stadt, in der für das Jugendstrafrecht durch das sogenannte “Rüsselsheimer Modell” innovative Maßstäbe gesetzt worden sind. Beruflich und privat bleibe ich bis heute mit Personen im sozialen Bereich vernetzt.‘ (https://www.matthiasjanko.de/#contact)