Eine Reise durch die Geschichte und moderne Ansätze. Reisen bildet und heilt
Warum das Reisen in Krisenzeiten mehr sein kann als Erholung – und manchmal zur Therapie wird. Von Goethes Italienreise bis zu modernen Retreats: Wie Menschen aufbrechen, um sich selbst zu finden – und welche Rolle Sinn, Bewegung und Fremde dabei spielen.
Heilen in der Fremde – Wie Reisen zu einer therapeutischen Kraft wird
Es gibt Zeiten im Leben, in denen der Weg zu sich selbst nur über Umwege führt. Und manchmal führt dieser Umweg tatsächlich durch ein fremdes Land, eine andere Sprache, eine ungewohnte Landschaft. Reisen als Medizin – das ist mehr als nur ein poetisches Bild. Immer mehr hochqualifizierte Fachkräfte aus dem medizinischen und psychologischen Bereich wenden sich dieser Praxisform zu: dem Reisen als therapeutischem Instrument, als Antwort auf innere Erschöpfung, Sinnkrisen oder biografische Umbrüche. Sie berichten davon, wie das bewusste Sich-Entfernen von der gewohnten Umgebung, der Eintritt in das Unbekannte und die Begegnung mit dem Fremden zu einer tiefgreifenden Selbsterfahrung führen können – nicht selten mit nachhaltiger Wirkung.
Einige dieser Fachleute, mit jahrzehntelanger Erfahrung in den belastendsten Bereichen der Akut- und Intensivmedizin, erzählen von persönlichen Krisen, die sie nicht mit Pillen, sondern mit Pässen angegangen sind. Eine fühlbare Erschöpfung am Ende einer medizinischen Ausbildung, ein Verlust der Selbstwirksamkeit nach traumatischen privaten Erfahrungen, eine schleichende Entfremdung im Burn-out junger Eltern: Sie alle berichten davon, dass die eigentliche Wendung nicht in der Ferne, sondern in sich selbst stattfand – angestoßen durch eine Bewegung nach außen.
Das Modell der Reise: Von Goethe bis zur integrativen Therapie.
Goethes Reise in die Campagna folgt dem Motto von Falco: Out Of The Dark, Into The Light
Schon früher war das Reisen mehr als bloße Fortbewegung – es war ein Weg zu sich selbst. Man denke an Johann Wolfgang von Goethe, der 1786, innerlich aufgewühlt, seine Amtsgeschäfte in Weimar zurückließ und inkognito nach Italien aufbrach. Diese Italienische Reise war nicht nur eine geografische Bewegung, sondern eine innere Umstülpung, ein therapeutischer Prozess avant la lettre. In seinen Aufzeichnungen erkennt man nicht nur das Staunen über das Licht Italiens, die Antike oder das Volksleben – sondern auch die allmähliche Selbstklärung eines Mannes, der sich neu ordnen wollte. Goethe reiste nicht, um zu fliehen, sondern um neu zu sehen – sich selbst eingeschlossen.
Die moderne Psychotherapie kennt dieses Prinzip in unterschiedlichen Schulen. Die Logotherapie etwa, entwickelt von Viktor E. Frankl, spricht vom Menschen als einem Wesen, das nicht primär nach Lust, sondern nach Sinn strebt. Wenn alte Bedeutungen versiegen, kann die Konfrontation mit der Fremde – mit neuen Kulturen, Perspektiven und symbolischen Räumen – den Sinn wieder in Bewegung bringen. Auch in der Integrativen Therapie wird der Körper als Träger von Erfahrung ernst genommen: Das Gehen, das körperliche Unterwegssein, das Überwinden realer Distanzen hilft, innere Distanzen zu erfassen und zu überbrücken. Und nicht zuletzt finden sich in den modernen Retreat-Modellen – von kontemplativen Auszeiten in der Natur über geführte Trekkingreisen bis hin zu achtsamkeitsbasierten Gruppenreisen – kombinierte Elemente von Bewegung, Reflexion, Gemeinschaft und Reduktion auf das Wesentliche.
Krisenorte und Wendepunkte: Geschichten einer therapeutischen Bewegung
Erzählt wird etwa von einer erfahrenen Pflegekraft, die nach Jahren im OP und nach belastenden privaten Erfahrungen ihre erste Reise allein antrat – nach Italien. Die äußeren Widrigkeiten dieser Reise – ein Diebstahl, das plötzliche Schweigen eines Bekannten, Einsamkeit in einem venezianischen Hotelzimmer – wurden zum Brennglas innerer Schwächen. Und dann, ein kleines Konzert in einer alten Kirche, Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, ein Musikstück der Kindheit – und plötzlich eine innere Umkehr: Dankbarkeit, das Wiedererwachen von Erinnerungen und ein zartes Gefühl von Zugehörigkeit. Die Reise wurde zur Zäsur, zur Selbstermächtigung. Nicht, weil alles glatt lief – sondern weil es nicht glatt lief. Weil sie sich selbst in der Lage erlebte, auf das Unvorhergesehene zu reagieren.
Auch andere Fachpersonen berichten von ähnlichen Erfahrungen. Eine Fernreise in die Wildnis Tansanias wurde nicht etwa zur Flucht aus der Realität, sondern zur Begegnung mit den eigenen Kontrollbedürfnissen und Grenzen. Ein Trekking in Nepal half, Trauerprozesse zu verarbeiten, Abschiede zu ritualisieren und die eigene Sterblichkeit nicht nur intellektuell, sondern körperlich zu erfahren. Die Reisevorbereitung selbst – die körperliche Aktivierung, das Zielsetzen, das Planen – war bereits Teil des Heilungsprozesses.
In einem anderen Fall wurde ein einfacher Hüttenaufenthalt in den amerikanischen Bergen zum Wendepunkt für ein junges Elternpaar. Ohne Digitalgeräte, ohne äußere Ablenkung, wuchs im Schweigen des Waldes ein neues Gespräch, eine neue Form der Verbindung. Es war kein spektakuläres Abenteuer, sondern eine stille Rückkehr zu sich selbst – im Schutz der Abgeschiedenheit.
Zwischen Sehnsucht und Selbstwirksamkeit
Reisen als Therapie funktioniert nicht, weil die Welt draußen schöner wäre – sondern weil sie einen Spiegel bietet. Das Fremde öffnet einen Raum, in dem wir das Eigene neu verhandeln können. Die Einsamkeit auf Reisen ist nicht Einsamkeit im klassischen Sinn, sondern oft ein Raum erhöhter Selbstbeobachtung. Das Verlieren in der Fremde führt nicht selten zu einer Form der Wiederauffindung: Man begegnet sich selbst unter neuen Vorzeichen, außerhalb der gewohnten Rollen, Narrative und Alltagsverpflichtungen.
Psychologisch betrachtet aktivieren solche Reisen eine Vielzahl neuronaler und emotionaler Prozesse: Der Perspektivwechsel stimuliert das limbische System, der Abbau von Routinen fördert neuroplastische Prozesse. Gleichzeitig werden durch Bewegung, Begegnung und Naturerfahrung Oxytocin, Dopamin und Serotonin ausgeschüttet – körpereigene Stoffe, die eng mit Wohlbefinden, sozialer Bindung und Antrieb verbunden sind. Tiefenpsychologisch gesprochen ermöglicht die Loslösung vom gewohnten Milieu auch eine temporäre Regression – ein Sich-selbst-in-Frage-Stellen, das produktiv werden kann, wenn es in ein neues Selbstbild integriert wird.
Sozialpsychologisch wiederum wirken Reisen oft wie ein Reframing: Durch die Begegnung mit anderen Lebenswelten entsteht ein neuer Blick auf das Eigene – nicht im Sinne von Exotisierung, sondern durch Relativierung und Selbstreflexion. Wer etwa erlebt, wie großzügig Fremde helfen, wo man es am wenigsten erwartet, korrigiert oft alte, tief verankerte Überzeugungen über sich und die Welt.
Eine alte Praxis in neuem Gewand
In Wahrheit ist all das nicht neu. Die Bildungsreise, einst ein Privileg des Bürgertums, war nie bloß Aneignung von Kunst und Kultur, sondern immer auch Selbsterziehung. Man fuhr nach Rom, um Schönheit zu sehen – aber auch, um aus dem Staub der Provinz ins Licht der Antike zu treten. Die Italienreise war ein symbolischer Gang ins andere Selbst. Heute kehrt dieses Motiv zurück – im Gewand der Retreats, der therapeutisch begleiteten Reisen, der Sehnsucht nach Tiefe in einer fragmentierten Welt.
Natürlich bleibt das Reisen auch ein Privileg. Doch die Frage, die sich aus all diesen Erzählungen stellt, ist vielleicht weniger, wohin man reist – sondern mit welcher Haltung. Wenn wir das Reisen wieder als eine Bewegung zur eigenen Mitte verstehen, als bewusste Störung eingespielter Muster, als Einladung zur inneren Neuordnung – dann kann selbst eine Zugfahrt ans Meer oder ein Wochenende in den Bergen mehr bewirken als so mancher Ratgeber oder Therapiekurs.
Denn manchmal führt der kürzeste Weg zu sich selbst über einen Umweg in die Fremde. Und manchmal beginnt der Wandel nicht mit einem Entschluss – sondern mit einem Koffer.
- Inspiration: Urlaubspläne mit H.
- Quelle: How Doctors Use Travel to Heal Themselves – Medscape – April 07, 2025
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