Sie saßen draußen auf der Terrasse des Lokals. Die anderen waren schon gegangen. Der Wein war warm geworden. Die Stimmen verstummt. Hinter dem Fluss ging langsam das Licht unter.
Das Klassentreffen als Ausgangspunkt existenzieller Fragen
Du hast dich kein bisschen verändert. Gleicher Pulli wie damals?
Fast der gleiche. Der alte hatte Löcher.
Und der hier? Zweiter-Hand-Charme?
Dritter. Aber er hält warm.
Na dann Prost, auf deinen Wollpulli. Ich hab mir letzte Woche einen Anzug schneidern lassen. Mailand. Reine Wolle, versteht sich.
Du siehst aus, als wärst du erfolgreich.
Bin ich. Drei Firmen. Eine in Zürich, eine in Berlin, eine auf Papier.
Was machst du so? Außer sitzen und warm bleiben?
Ich bin Archivar.
Ach du meine Güte. Papierstaub, Neonlicht, und duzt dich mit der Vergangenheit.
Die Vergangenheit antwortet höflich. Meistens.
Du verschwendest dein Leben, Laurin. Du könntest doch… irgendwas. Wenigstens versuchen, mehr zu sein als – na ja – ein Eintrag im Stadtadressbuch.
Du meinst, man ist erst jemand, wenn man mehr ist als man selbst?
Ich meine, man muss was draus machen. Reichweite. Eindruck. Präsenz. Heute zählt Sichtbarkeit.
Für wen?
Erfolg, Sichtbarkeit und gesellschaftliche Erwartungen
Na für… die Welt. Die Märkte. Die Leute eben.
Und wer bist du, wenn keiner zusieht?
(Schweigt, lacht dann.)
Du warst schon immer komisch. Philosophisch mit leerem Kühlschrank.
Und du warst immer gut darin, zu glänzen. Auch wenn du’s abgeschrieben hast.
Ach komm. Das war ne Bio-Klausur. Kein Mensch fragt heute nach Aminosäuren.
Vielleicht nicht. Aber sie stecken trotzdem in dir.
Willst du sagen, ich bin eine biochemische Täuschung?
Ich frage mich nur, ob du weißt, was du wirklich bist.
Ich bin CEO. Gründer. Investor. Speaker. In Singapur haben sie neulich—
—gehört, was du sagen willst?
(Schweigt, nippt am Glas.)
Weißt du, was dein Problem ist? Du verstehst das Spiel nicht. Es geht um Tempo. Einfluss. Um Räume, die man sich nimmt, nicht bekommt.
Und wenn der Raum leer ist?
Dann füllt man ihn. Mit Licht. Oder mit Applaus.
Und wenn niemand mehr klatscht?
Dann klatscht man für sich selbst. Ehrlich, Laurin, du stellst Fragen wie ein Beichtvater. Dabei bist du nur ein stiller Mann auf einer Holzbank.
Und du bist ein lauter Mann in einem gläsernen Turm.
Besser als in einem muffigen Keller.
Im Keller sieht man, was man hebt.
Und im Turm?
Sieht man sich selbst. Irgendwann.
(Wird still.)
Ich hatte neulich einen Traum.
Was für einen?
Ich war ganz oben. Alles unter mir war Licht. Applaus. Und dann fiel alles weg. Ich stand da, nackt. Ohne Stimme. Ohne Namen.
Und was blieb?
Ich weiß nicht. Vielleicht nichts. Vielleicht ich.
Kennst du dich?
Ich kenne mein Portfolio.
Das meinte ich nicht.
Natürlich nicht. Du meinst irgendwas mit Seele, oder? Das Innere Kind. Der wahre Kern. Ich hab das alles gehört, bei einer Frau in Wien, die nennt sich Bewusstseinscoach. Hat 300 die Stunde genommen.
Und?
Ich hab’s als Werbung abgesetzt.
Vielleicht war es das ja auch.
Was?
Ein Angebot, kein Produkt.
(Lacht leise.)
Weißt du, manchmal beneide ich dich.
Warum?
Du wirkst… unbesorgt. Langsam. Wie einer, der nicht rennt, aber trotzdem ankommt.
Ich bin halt losgegangen. Du rennst noch.
Und wenn ich stehen bleibe?
Dann hörst du vielleicht, wie’s in dir klingt.
Was, wenn’s leer ist?
Dann kannst du es füllen.
Womit?
Mit dem, was du bist. Wenn du’s herausfindest.
Der Kellner bringt die Rechnung. Moritz bezahlt. In bar. Ohne ein Wort. Sie stehen auf. Es ist kühl geworden.
Du weißt, wo du mich findest.
(Leise.)
Vielleicht finde ich mich da auch.
Vielleicht.
Sie gehen auseinander. Keine Umarmung. Keine Versprechungen. Der Himmel ist klar. Die Straße leer. Und irgendwo in Moritz klingt noch ein Satz nach, den keiner ausgesprochen hat.
- Inspiration: Gespräch mit Marcel
- Bild: www.freepik.com
- Die redaktionelle Bearbeitung des Textes erfolgte KI-unterstützt.