Neue Erkenntnisse über die wechselseitige Beziehung zwischen Angst, Entzündung, Krebs und Alltagserleben – und was das für Betroffene und Angehörige bedeutet

Wer unter einer Angststörung leidet, kennt die Situation: Ein harmloser Gang zum Supermarkt wird zur scheinbar unüberwindbaren Hürde. Das Herz rast, der Atem stockt, der Kopf wird eng – und plötzlich ist der Alltag nicht mehr Ort der Normalität, sondern ein Minenfeld. Viele Betroffene fragen sich: Muss ich erst meine Symptome loswerden, bevor ich wieder „funktionieren“ kann? Oder kann gerade der Alltag ein Teil der Therapie sein?

Diese Frage erhält durch gleich zwei bedeutsame Studien eine überraschend neue Dimension. Die eine stammt aus der Psychotherapie-Forschung: Die CALM-Studie (Coordinated Anxiety Learning and Management) zeigt, dass sich Alltagsaktivität und Angstsymptome gegenseitig beeinflussen. Die andere stammt aus der Psychoneuroimmunologie: Eine großangelegte Längsschnittstudie aus Taiwan weist darauf hin, dass Angststörungen das Krebsrisiko erhöhen können – und umgekehrt. Gemeinsam eröffnen beide einen neuen Blick auf das, was Angst mit Körper und Leben macht – und was man konkret dagegen tun kann.

Die unsichtbare Verbindung: Angst, Entzündung und Krankheit

Dass Angst nicht nur psychisch belastet, sondern auch körperliche Folgen haben kann, ist mittlerweile gut belegt. Die taiwanesische Studie mit über 23.000 Menschen mit Angststörungen und über 33.000 Krebspatient:innen zeigt deutlich: Die Beziehung zwischen beiden Krankheitsbildern ist keine Einbahnstraße. Menschen mit diagnostizierter Angststörung hatten ein um 29 % erhöhtes Risiko, an Krebs zu erkranken – besonders an Schilddrüsen-, Haut- und Prostatakrebs. Umgekehrt entwickelten viele Krebspatient:innen – vor allem bei symbolisch aufgeladenen Diagnosen wie Leukämie oder Nasenkrebs – später Angststörungen.

Die Brücke zwischen Psyche und Körper schlägt hier die Psychoneuroimmunologie. Chronischer Stress aktiviert dauerhaft die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-Achse) sowie das sympathische Nervensystem. Diese Übererregung kann zu sogenannten stillen, chronischen Entzündungen führen – einem Risikofaktor sowohl für psychische als auch für somatische Erkrankungen. Was früher als getrennt gedacht wurde – die „seelische“ und die „körperliche“ Krankheit – erweist sich zunehmend als Ausdruck eines überforderten, dysregulierten Systems.

Alltag als Therapie: Wenn Aktivität die Angst verringert

Angesichts dieser Zusammenhänge gewinnt eine zweite Erkenntnis besondere Bedeutung: Symptome und Lebensqualität beeinflussen sich wechselseitig – im Guten wie im Schlechten. Die CALM-Studie verfolgte über eineinhalb Jahre hinweg über 1.000 Menschen mit Panikstörungen, sozialer Phobie, generalisierter Angst oder posttraumatischer Belastung. Das zentrale Ergebnis: Wer weniger Angst hat, lebt besser. Aber auch: Wer aktiver lebt, hat weniger Angst. Der Zusammenhang war in beiden Richtungen gleich stark – ein echter Paradigmenwechsel.

Beispiel Maria: Die 35-jährige Bürokauffrau leidet an Panikattacken. Die traditionelle Herangehensweise wäre, zunächst Medikamente oder Therapie zu verordnen – und erst später, wenn es ihr besser geht, den Wiedereinstieg in den Alltag zu versuchen. Doch die neue Forschung zeigt: Gerade dieser Alltag – ein kleiner Einkauf, ein gelungener Anruf, ein kurzes Gespräch im Büro – kann selbst heilend wirken. Erfolgserlebnisse fördern das Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit. Das verringert Angst – was wiederum mehr Alltag zulässt. Ein Kreislauf der Erholung.

Behandlung wirkt doppelt – wenn man sie ergänzt

Die therapeutische Bedeutung dieser Wechselwirkungen ist groß: In der CALM-Studie zeigte sich, dass gerade in jenen Gruppen, die eine evidenzbasierte Behandlung erhielten (z. B. kognitive Verhaltenstherapie oder Psychopharmaka), die positiven Effekte von Alltagsaktivität besonders stark waren. Das heißt: Gute Therapie macht Alltag leichter – und ein aktiver Alltag macht Therapie wirksamer.

Therapeut:innen sollten daher nicht nur Symptome reduzieren, sondern gezielt funktionelle Verbesserungen anstoßen

Expositionen, Rollenspiele, Verhaltensexperimente und konkrete Zielvereinbarungen helfen, das „echte Leben“ in die Behandlung zu holen. So wird der Alltag nicht nur wieder möglich – er wird selbst zur Ressource.

Tipps für Betroffene

  • Fang klein an: Du musst nicht gleich alles schaffen. Ein Spaziergang, eine kurze Erledigung oder ein Telefonat reichen als Anfang. Jeder kleine Schritt zählt.
  • Beobachte die Wirkung: Notiere dir, wie du dich vor und nach der Aktivität fühlst. Du wirst mit der Zeit merken: Es tut gut, etwas geschafft zu haben.
  • Setze dir erreichbare Ziele: Nicht der Anspruch zählt, sondern der Kontakt mit dem Leben.
  • Wertschätze Rückschritte: Es ist normal, dass nicht jeder Tag gelingt. Rückschritte sind kein Zeichen des Scheiterns, sondern Teil des Prozesses.
  • Sprich mit deiner Therapeutin oder deinem Therapeuten: Lass dir helfen, Aktivitäten behutsam in die Behandlung zu integrieren.

Tipps für Angehörige

  • Ermutige sanft, aber klar: Unterstütze die betroffene Person darin, kleine Schritte zu wagen – ohne zu drängen oder zu bewerten.
  • Vermeide Überbehütung: Gut gemeinte Schonung kann Rückzug und Passivität verstärken.
  • Feiere Erfolge mit: Ein gelungener Einkauf oder ein mutiger Anruf sind große Schritte. Zeige Anerkennung, auch für kleine Fortschritte.
  • Informiere dich: Verstehe die Angst besser – etwa durch Fachliteratur oder den Austausch in Angehörigengruppen.

Gesellschaftliche Relevanz: Eine neue Perspektive auf seelische Gesundheit

Die Erkenntnisse der Studien gehen über das Individuum hinaus. Angststörungen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen und verursachen erhebliche gesellschaftliche Kosten. Frühe, alltagsintegrierte Interventionen könnten nicht nur das persönliche Leiden lindern, sondern auch Frühverrentung, Krankschreibung und medizinische Folgekosten reduzieren.

Zugleich lässt sich mit diesem neuen Blick das Stigma psychischer Erkrankungen abbauen. Denn er macht deutlich: Menschen müssen nicht „vollständig geheilt“ sein, um am Leben teilzunehmen. Genesung geschieht nicht erst im Rückzug – sondern mitten im Tun. Heilung ist kein Ziel, das man irgendwann erreicht, sondern ein Prozess, den man lebt.

Fazit: Aktivität ist keine Belastung – sie ist Medizin

Die wichtigste Botschaft aus beiden Forschungsrichtungen lautet: Angst ist nicht nur ein psychisches Erleben, sondern ein gesamtbiologisches Geschehen – und der Alltag ist nicht bloß der Ort der Belastung, sondern auch der Ort der Heilung. Ob im Umgang mit Angstsymptomen oder im Schutz vor chronischer Erkrankung: Die Rückkehr ins Leben ist kein späterer Lohn – sie ist Teil der Lösung.


Studienquellen:

  • Inspiration: Gespräche mit Leon
  • Roy-Byrne, P. et al. (2010). Delivery of Evidence-Based Treatment for Multiple Anxiety Disorders in Primary Care: A Randomized Controlled Trial. PMCID: PMC4383724
  • Hsu, Y. et al. (2023). Bidirectional Association Between Anxiety Disorders and Cancer: A Nationwide Longitudinal Study.
  • Jacobson, N. S. et al. (2001). Behavioral Activation Treatment for Depression: Returning to Contextual Roots
  • Redaktionell bearbeitet und KI-unterstützt formuliert.