Im dritten Buch Mose, Kapitel 20, Vers 13, finden wir eine der bekanntesten und heute am kontroversesten diskutierten alttestamentlichen Stellen: „Wenn jemand bei einem Mann liegt, wie man bei einer Frau liegt, so haben beide einen Gräuel verübt; sie sollen gewisslich des Todes sterben – ihr Blut sei auf ihnen.“

Solche Worte werfen heute viele Fragen auf – nicht nur moralischer, sondern auch historischer und kultureller Art. Wie konnte es zu einem solch drastischen Verbot kommen, und warum galt es in der damaligen Zeit als notwendig oder sogar heilig? Die Antwort liegt nicht allein in einer göttlichen Offenbarung, wie sie oft verstanden wurde, sondern auch in einer Deutung dieser Gebote als geronnene Lebenserfahrungen – als verdichtete Beobachtungen und Überlebensstrategien eines Volkes, das sich in einer unsicheren, bedrohlichen Welt behaupten musste. Dabei muss man auch im Blick behalten, dass jedes als „heilig“ empfundene System auf eine Mischung aus Faszination und Furcht antwortet – ein Mechanismus, den wir heute auch in anderen Bereichen wiederfinden.
Sexualität als Ordnungsmacht
In einer Kultur, in der das Überleben eines Stammes von der Zahl seiner Nachkommen abhing, war Fortpflanzung keine private Angelegenheit, sondern ein öffentliches Gut. Sexualität war demnach nicht in erster Linie Ausdruck individueller Liebe oder Identität, sondern eine soziale Ressource. Jedes Verhalten, das sich dieser Ressource entzog – etwa gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Männern – konnte als Bedrohung für das kollektive Weiterleben gedeutet werden. Hinzu kam, dass homosexuelles Verhalten nicht als feste sexuelle Orientierung verstanden wurde, sondern als Entscheidung oder Verirrung, die durch Normen zu begrenzen war. So wurde das Verbot zur Wahrung der sozialen Ordnung, zur Sicherung der Nachkommenschaft und – wenn man so will – zur Bewahrung der Zukunft eines Volkes.
Schutz der Frau als Trägerin des Lebens
Ein weiterer möglicher Hintergrund betrifft die Stellung der Frau. In patriarchalen Gesellschaften war ihre Hauptaufgabe die Geburt und Versorgung der Kinder. Ihre Fruchtbarkeit war zugleich ihr gesellschaftliches Kapital. Wenn – etwa durch analpraktizierte Sexualität, ob zwischen Männern oder zwischen Mann und Frau – Infektionen auftraten, die zu Unfruchtbarkeit führen konnten, war die soziale Existenz einer Frau bedroht. Es liegt nahe anzunehmen, dass bestimmte sexuelle Praktiken aus Sorge um die Reinheit, Gesundheit und reproduktive Funktion der Frau geächtet wurden. Die religiöse Sprache – der „Gräuel“ – kann somit auch als Ausdruck einer tiefen Angst vor dem Verlust der weiblichen Lebensquelle verstanden werden.
Solche Mechanismen – das Verschmelzen von hygienischer, sozialer und symbolischer Logik – sind uns auch aus modernen Phänomenen vertraut. Esoterisch inspirierte Bewegungen innerhalb der Medizin, etwa die Homöopathie oder anthroposophisch orientierte Heillehren, greifen auf eine ähnliche Logik zurück: Sie definieren Reinheit, Natürlichkeit und Lebensenergie als quasi-spirituelle Kategorien, die durch bestimmte Verhaltensweisen erhalten oder wiederhergestellt werden sollen. Was früher rituelle Reinheit war, wird heute zur „Entgiftung“, zur „energetischen Balance“ oder zum „kosmischen Gleichgewicht“. Die emotionale Struktur dahinter ist vergleichbar: Unsicherheit wird durch symbolische Kontrolle gemildert, das Körperliche erhält eine höhere, oft moralisch gefärbte Bedeutung.
Abgrenzung als geistiger Selbstschutz
Nicht zu vernachlässigen ist der politische und kulturelle Aspekt. In der griechischen Welt, insbesondere im Athen des klassischen Zeitalters, war eine bestimmte Form der männlichen Homosexualität – die Beziehung zwischen einem älteren und einem jüngeren Mann – gesellschaftlich integriert und sogar als erzieherisch wertvoll angesehen.

Der jüdische Kulturkreis, insbesondere in der Zeit nach dem babylonischen Exil, bemühte sich jedoch zunehmend um eine Identität, die sich von den umgebenden Großkulturen abgrenzte. Reinheitsgebote, Speisevorschriften und Sexualethik waren Werkzeuge dieser kulturellen Selbstvergewisserung. Der Ausschluss bestimmter Verhaltensweisen diente nicht nur moralischer Ordnung, sondern war ein Zeichen geistiger Unabhängigkeit. Man war nicht wie die Griechen oder wie die Ägypter – man war das „heilige Volk“, das eigene, von Gott gegebene Regeln hatte.
Auch in unserer Gegenwart beobachten wir ähnliche Dynamiken: Bewegungen, die sich durch radikale Abgrenzung definieren – sei es durch vegane Ernährung, alternative Medizin oder strikte Lebensstilregeln – übernehmen symbolisch die Rolle religiöser Gebote. Ihre Anhängerinnen und Anhänger erleben Zugehörigkeit, Identität und moralische Überlegenheit durch freiwillige Unterwerfung unter Regeln, die nicht immer rational überprüfbar, dafür aber emotional aufgeladen sind. Was früher göttliches Gesetz war, wird heute zur „evidenzbasierten Lebenspraxis“ oder zum Ausdruck „wissenschaftlicher Aufgeklärtheit“ – mitunter ebenso dogmatisch und ausschließend wie die alten Regeln, nur in neuer Sprache.
Die Funktion der Speisegebote
Ein ähnliches Muster findet sich auch bei den Speisevorschriften, etwa beim Verbot des Schweinefleischs. Schweine waren Nahrungskonkurrenten des Menschen: Sie fraßen das gleiche wie wir, konnten aber keine Milch geben, keine Lasten tragen, keine Wolle liefern. Zudem war das Schwein anfällig für Krankheiten wie Trichinose, die bei unzureichender Garung des Fleisches lebensbedrohlich sein konnte. Wieder zeigt sich: Was als „unrein“ galt, war oft einfach das, was gefährlich war – und deshalb gemieden wurde. Rinder, Schafe und Geflügel hingegen fraßen Gras oder Insekten und lieferten Nahrung, Kleidung und Zugkraft. Hier diente das Gebot also der Gesundheit, dem Überleben und der optimalen Nutzung begrenzter Ressourcen.
Die Rationalität solcher Verbote mag uns heute einleuchten – aber nur, weil sie in ein modernes Raster von Nützlichkeit übersetzt wird. Interessanterweise erleben wir heute ein ähnliches Bedürfnis nach Orientierung durch Essensregeln. Ob glutenfrei, laktosefrei, vegan, basisch oder antientzündlich: Viele moderne Ernährungskonzepte übernehmen die Struktur religiöser Speisegebote. Was einst durch „koscher“ oder „haram“ definiert wurde, heißt heute „clean eating“ oder „low carb“. Auch hier gilt: Die physische Wirkung mag real oder eingebildet sein – die psychologische Wirkung ist unbestreitbar. Sie stiftet Identität, gibt Halt und vermittelt das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.
Religiöse Gebote als Übung in Disziplin
Was machen wir heute mit all dem? Müssen wir diese Vorschriften befolgen? Sind sie Zeichen eines rachsüchtigen Gottes, eines veralteten Menschenbilds – oder steckt darin etwas, das auch für uns noch Bedeutung hat? Die Antwort liegt vielleicht in einer Umdeutung. Die Entmythologisierung dieser Gebote bedeutet nicht, ihren Sinn zu zerstören, sondern ihn neu zu entdecken. Denn viele dieser Regeln lassen sich heute als Formen spiritueller oder körperlicher Disziplin verstehen. Das Fasten etwa – sei es im Christentum zur Passionszeit, im Islam während des Ramadan oder im modernen Intervallfasten – ist längst auch medizinisch rehabilitiert. Studien zeigen, dass längere Phasen der Nahrungskarenz (z. B. 16 Stunden täglich) Prozesse der Zellerneuerung anstoßen, Entzündungen reduzieren und sogar Alterungsprozesse verlangsamen können. Was einst ein religiöser Zwang war, ist heute eine freiwillige Praxis zur körperlichen Erneuerung geworden.
Interessant ist, dass selbst die Wissenschaft dabei oft zur Ersatzreligion wird. Die Rede vom „wissenschaftlich bewiesenen Nutzen“ ersetzt das frühere „Gott hat es so gewollt“. Und so sehr dieser Fortschritt zu begrüßen ist – er trägt auch seine eigenen Dogmen in sich. Wer sich ausschließlich an „Studienlage“ und „klinischen Evidenzen“ orientiert, kann in eine neue Form von blinder Gläubigkeit geraten. Dann wird Wissenschaft nicht mehr als kritische Methode verstanden, sondern als moralische Autorität. Auch das ist eine Form von Disziplin – mit ihren eigenen Ritualen, Symbolen und Priestern in weißen Kitteln.
Von der Angst zur Achtsamkeit
Auch das Sexualverhalten lässt sich neu deuten. Was früher verboten war, um eine Gesellschaft zu schützen, ist heute Gegenstand individueller Verantwortung. Wer sich selbst und seine Sexualität ernst nimmt, wer andere achtet und bewusst handelt, erfüllt auf moderne Weise das alte Ideal: Leben zu bewahren, statt es zu gefährden. Religiöse Praxis kann so wieder das werden, was sie vielleicht immer schon war: eine Einladung zur Achtsamkeit, zur bewussten Gestaltung des eigenen Lebens, zur Rückbindung an etwas Größeres als den Moment.
Und auch moderne Bewegungen – etwa im Bereich von Yoga, Meditation oder spiritueller Ernährung – versuchen letztlich dasselbe: Rituale des Innehaltens, Formen der Selbstvergewisserung, Übungen in Disziplin, die das Individuum stärken und zugleich in eine größere Ordnung einbetten. Ob wir diese Ordnung „Gott“, „Natur“, „Universum“ oder „Selbstheilungskraft“ nennen, spielt eine untergeordnete Rolle. Die Sehnsucht dahinter ist dieselbe.
Ein neuer Blick auf alte Gebote
Die Gebote der Bibel sind keine naturwissenschaftlichen Aussagen, sondern existentielle Hilfen – verdichtete Erfahrungen, die Menschen gemacht haben im Umgang mit Gefahr, Unsicherheit, Krankheit und Gemeinschaft. Wenn wir sie heute neu lesen, können wir sie als Spuren eines alten Wissens verstehen, das mit der Zeit gegangen ist. Sie mahnen uns zur Verantwortung – nicht aus Angst vor Strafe, sondern aus Liebe zum Leben. Sie erinnern uns daran, dass Freiheit und Disziplin keine Gegensätze sein müssen, sondern zwei Seiten derselben bewussten Haltung: im eigenen Körper, in der Gemeinschaft und in der Welt.
Inspiration: Gespräche mit M.
Quellen:
- The Holy Bible, King James Version. The Gideons, Chicago 11, Illinois, 1959.
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- Bild 2: KI-generiert. ChatGPT
- Text: redaktionelle Überarbeitung: ChatGPT
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