Die Frage des Lebens in einer gerechten Gesellschaft stellt sich um so drängender, je größer die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht. Verschwenderischer Luxus auf der einen Seite korreliert mit zunehmender Verarmung und zum Teil Verelendung auf der anderen Seite. Soziale Spannungen nehmen zu und Menschen wenden sich politisch den Extremen zu in der Hoffnung, dort die Lösung der existenziellen Probleme zu finden.

Eine kapitalistisch-bürgerlichen Ordnung baut auf Konkurrenz, Effizienz und Gerechtigkeit, um so sozialen Frieden und wirtschaftliches Wachstum zu generieren. Aber nicht alles wächst überall und nicht gleich schnell. Verwerfungen entstehen, die, wenn sie ein kritisches Maß überschreiten, einen Kipppunkt erreicht und vieles oder alles zusammenbrechen lässt. Der Wohlstand einer Gesellschaft muss in einem politischen und ökonomischen Rahmen möglichst gerecht und angemessen verteilt werden. Ansonsten verlieren Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ihre Daseinsberechtigung. Angesichts der gegenwärtigen Krise stellt sich die Frage nach einer Neudefinition der Begriffe und Neujustierung der Mechanismen. Die Beziehungen zwischen Geben und Teilen einerseits und Nehmen und Behalten anderseits müssen im gesellschaftlichen Diskurs und Konsens neu austariert werden.

Aus ökonomischer Sicht zeigt sich, dass Geben und Teilen die Grundlage für nachhaltiges Wachstum und Stabilität in einer Gesellschaft bilden. Die Verteilung von Ressourcen, sei es in Form von Geld, Wissen oder Zeit, schafft Netzwerke und fördert Kooperation. Studien zur Spieltheorie und Verhaltensökonomie belegen, dass Altruismus langfristig zu einer effizienteren Allokation von Ressourcen führt. Unternehmen, die soziale Verantwortung übernehmen, erzielen nicht nur ökonomische Vorteile durch ein positives Image, sondern auch durch den Aufbau langfristiger Beziehungen zu Kunden und Partnern. Darüber hinaus erzeugt das Prinzip des Teilens einen Multiplikatoreffekt: Geteiltes Wissen führt zu Innovationen, und geteilte finanzielle Ressourcen ermöglichen Investitionen, die über das individuelle Wohl hinausgehen. Das egoistische Horten von Ressourcen hingegen führt häufig zu Stagnation und sozialen Spannungen.

Ein konkretes Beispiel aus der ökonomischen Perspektive ist die Praxis von Mikrofinanzinstituten wie der Grameen Bank. Diese vergeben Kleinkredite an Menschen in Entwicklungsländern, die über keine Sicherheiten verfügen. Die daraus entstehenden Mikrounternehmen fördern lokale Wirtschaftskreisläufe und schaffen Arbeitsplätze, während das Prinzip der Rückzahlung oft durch gemeinschaftlichen Zusammenhalt gewährleistet wird.

Sozial betrachtet fördert Geben und Teilen den Zusammenhalt und das Vertrauen innerhalb einer Gemeinschaft. Menschen, die bereit sind, zu teilen, werden als integrativer Teil des sozialen Gefüges wahrgenommen. Sie schaffen Bindungen, die auf Gegenseitigkeit und Respekt beruhen. Gemeinschaften, die stark auf Kooperation und Teilen setzen, sind resilienter gegenüber Krisen und können Konflikte konstruktiver bewältigen. Darüber hinaus ist die soziale Reziprozität ein zentraler Mechanismus: Wer gibt, inspiriert andere dazu, ebenfalls zu geben, und schafft damit eine Dynamik des Gebens, die das Wohl aller hebt. Besonders in Krisensituationen zeigt sich, dass geteilte Ressourcen und gegenseitige Unterstützung das Fundament für eine funktionierende Gesellschaft bilden.

Ein Beispiel für die soziale Perspektive ist die Arbeit von Foodsharing-Initiativen, bei denen Lebensmittel, die sonst weggeworfen würden, innerhalb einer Gemeinschaft geteilt werden. Diese Netzwerke stärken den sozialen Zusammenhalt und reduzieren gleichzeitig Lebensmittelverschwendung.

Philosophisch gesehen hat das Geben eine lange Tradition als Tugend. Aristoteles betrachtet Großzügigkeit als eine Form der moralischen Exzellenz, die den Geber und den Empfänger gleichermaßen bereichert. Immanuel Kant betont die Ethik der Pflicht und argumentiert, dass altruistisches Handeln eine moralische Verpflichtung ist, die aus der Achtung vor der Menschheit als Selbstzweck resultiert.

Geben und Teilen schaffen eine Verbindung zwischen Individuen, die über rein materielle Dimensionen hinausgeht. Es entsteht ein Sinn für Zugehörigkeit und Verantwortung, der das individuelle Leben mit Bedeutung und Würde erfüllt.   

Ein philosophisches Beispiel ist der Gedanke der „Open-Source“-Bewegung in der Softwareentwicklung. Entwickler teilen ihren Code frei mit der Öffentlichkeit, was zu einer globalen Zusammenarbeit führt und Projekte wie Linux oder Wikipedia ermöglicht hat. Dies entspricht der Idee, dass Wissen und Fortschritt allen zugutekommen sollten.

Aus psychologischer Sicht zeigt sich, dass Geben und Teilen nicht nur dem Empfänger, sondern auch dem Geber guttut. Das sogenannte „Helper’s High“ beschreibt das Gefühl von Glück und Erfüllung, das durch altruistisches Verhalten ausgelöst wird. Studien zeigen, dass Menschen, die regelmäßig geben, oft ein höheres Maß an Lebenszufriedenheit und psychischem Wohlbefinden erleben.

Darüber hinaus fördert das Geben ein positives Selbstbild und stärkt das Gefühl der eigenen Wirksamkeit. Wer gibt, erlebt sich als kompetent und wertvoll. Psychologisch gesehen hilft das Teilen auch dabei, Bindungen zu anderen aufzubauen, was wiederum ein Schlüsselfaktor für mentale Gesundheit ist.

 Ein konkretes Beispiel aus der Psychologie ist die freiwillige Arbeit in Altersheimen oder Obdachlosenunterkünften. Menschen, die solche Tätigkeiten ausüben, berichten häufig über gesteigertes Wohlbefinden und das Gefühl, einen positiven Unterschied im Leben anderer zu machen.

In der Psychotherapie wird das Prinzip des Gebens und Teilens oft genutzt, um Selbstwertgefühl und soziale Kompetenzen zu stärken. Menschen, die lernen, ihre Ressourcen mit anderen zu teilen, entwickeln häufig ein besseres Verständnis für ihre eigenen Bedürfnisse und die der anderen. Therapeutisch kann das Geben auch dazu beitragen, starre Denkmuster zu durchbrechen. Wer gibt, öffnet sich für neue Perspektiven und gewinnt an emotionaler Flexibilität. Besonders bei Themen wie Einsamkeit oder Depression kann das Engagement für andere heilsam sein, da es eine Brücke aus der Isolation baut.  

Ein Beispiel für die psychotherapeutische Perspektive ist der Einsatz von „Acts of Kindness“ in der Therapie. Patienten werden ermutigt, gezielte freundliche Handlungen auszuführen, wie etwa einem Fremden zu helfen. Diese Praxis stärkt ihr Selbstwertgefühl und fördert soziale Bindungen. 

Religiöse Perspektive: Viele Religionen betonen die Bedeutung von Geben und Teilen als zentrale Werte. Im Christentum wird das Teilen als Ausdruck der Nächstenliebe gesehen, im Islam gilt die Zakat (Almosensteuer) als eine der fünf Säulen des Glaubens. Der Buddhismus betrachtet das Geben (Dana) als einen Weg, Anhaftung und Egoismus zu überwinden. In religiösen Kontexten wird Geben oft als spiritueller Akt verstanden, der die Seele bereichert und den Geber in Einklang mit einer höheren Ordnung bringt. Das Teilen wird hier nicht nur als Pflicht, sondern auch als Privileg betrachtet, das dem Leben einen tieferen Sinn verleiht.                                                                      

Ein konkretes Beispiel aus der religiösen Perspektive ist die Arbeit der Tafelbewegung, die auf christlichen Werten basiert. Sie sammelt überschüssige Lebensmittel und verteilt sie an Bedürftige, wodurch der Gedanke der Nächstenliebe in die Praxis umgesetzt wird.

Geben und Teilen sind weit mehr als altruistische Akte; sie sind ein Ausdruck der Verbundenheit und eine Quelle von Reichtum, die über das Materielle hinausgeht. Aus ökonomischer, sozialer, philosophischer, psychologischer, psychotherapeutischer und religiöser Perspektive wird deutlich, dass das Teilen uns nicht ärmer, sondern reicher macht – an Beziehungen, an Sinn und letztlich auch an Glück.

Aus ganzheitlicher Sicht lässt sich die Trennung der einzelnen Perspektiven hinterfragen. Sie ist aber um der Klarheit willen notwendig. Sieht man das Leben als unteilbare Einheit, und das Geben als Ausdruck der gesamten Existenzweise eines Menschen, ist die Integration aller Einzelperspektiven notwendig, stellen allerdings den Idealfall dar.Ein Geben, das nur aus strategischen oder instrumentellen Gründen geschieht – etwa, um ökonomische Vorteile zu erzielen oder ein positives Image zu pflegen – verliert an Wert. Das echte Geben entspringt einer Haltung der Liebe, der Freiheit und des inneren Reichtums, einer Haltung des ‚Seins‘, wie Erich Fromm es formuliert. In seinem Sinne ist das Geben aus der Haltung des Seins bedingungslos und nicht auf soziale Reziprozität angelegt. Die Haltung des Seins bedeutet auch eine innere Transformation des Menschen, eine Transformation, durch die das Geben Ausdruck eines veränderten Bewusstseins ist, in dem die Verbundenheit mit anderen im Mittelpunkt des menschlichen Lebens steht.   

Letztlich bleibt die Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung einer solch individuellen Haltung. Es ist wichtig, dass Geben und Teilen nicht nur auf individueller Ebene geschieht, sondern im Sinne einer gerechten Gesellschaft auch durch strukturelle, institutionelle und systemische Veränderungen unterstützt wird.

Inspiration:

  • „… über den Heiligen Martin, den Poeten Enzensberger sowie über die letzten 50 Tage im Schatten des Domes und
  • „Wie viel braucht der Mensch zum Leben?“. In: Peter A. Schult:  Alles Hat Seine Zeit. Eine kleine Sammlung von tröstlichen Gedanken mit Humor Sinnsuche und Atemholen. Mainspitz Verlag, 2023.
  • Erich Fromm: Haben oder Sein – Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München 2017.