Dem Begriff von Hannah Arendt (1906-1975) des „Menschen ohne Welt“ liegt eine tiefe Diagnose der Moderne, die heute aktueller erscheint denn je. Gemeint ist ein Mensch, der seine Bezüge zur Welt verloren hat: zur gemeinsamen Welt, zur politischen Welt, zur zwischenmenschlichen Welt.

Hannah Arendt (1906-1975) des „Menschen ohne Welt“
Hannah Arendt (1906-1975) des „Menschen ohne Welt“

Arendt beschreibt diesen Zustand als eine existenzielle Obdachlosigkeit, als eine Vereinsamung des Individuums inmitten einer Massengesellschaft, die paradoxerweise gleichzeitig alles nivelliert und alle vereinzelt. Es ist nicht mehr die isolierte Einsamkeit am Rande der Gesellschaft, sondern die Einsamkeit in der Gesellschaft, die Entfremdung inmitten von Freunden, das Gefühl des Verlorenseins unter Bekannten. Bindungslosigkeit, Oberflächlichkeit, Austauschbarkeit und das Fehlen echter Beziehungen führen dazu, dass die Menschen in der Masse zwar sichtbar, aber nicht gesehen sind, laut, aber nicht gehört, zahlreich, aber doch allein.

Individualismus, Hedonismus und die Aushöhlung des Selbst

Diese moderne Einsamkeit wird nicht selten durch einen übersteigerten Individualismus verschärft, der keine Freiheit zu etwas mehr kennt, sondern nur noch die Freiheit von etwas betont. Freiheit wird so verstanden als Abwesenheit von Verpflichtung, als Loslösung von Normen, Bindungen, Pflichten – und damit auch als Flucht vor Verantwortung.

Moderne Einsamkeit wird nicht selten durch einen übersteigerten Individualismus
Moderne Einsamkeit wird nicht selten durch einen übersteigerten Individualismus

Dieser Typus Mensch versteht Freiheit nicht als Möglichkeit zur Selbstverwirklichung im Rahmen gemeinsamer Werte, sondern als Rückzug in ein selbstbezogenes, hedonistisch aufgeladenes Dasein. Das eigene Lustempfinden, der Genuss, das Erleben des Moments treten an die Stelle langfristiger Bindungen, gemeinsamer Aufgaben oder tiefer Beziehungen. Verantwortung wird zur Last, aus der man sich befreien möchte – und aus der Befreiung von Verantwortung wird Schritt für Schritt Verantwortungslosigkeit.

Vom Verlust des Respekts zum Verlust des Selbstrespekts

In dieser Entwicklung geht auch der Respekt verloren: Zunächst gegenüber Institutionen, dann gegenüber Mitmenschen – und schließlich gegenüber sich selbst. Wenn niemand mehr über einen urteilt, wenn es keine Instanzen und keine echten Spiegel mehr gibt, dann erlischt auch der eigene Blick auf sich selbst. Der Verlust des Selbstrespekts ist dabei nicht einfach eine psychologische Folge, sondern ein gesellschaftliches Symptom: In einer Welt, in der alles erlaubt scheint, verliert das Individuum die Fähigkeit, sich selbst zu begrenzen, sich selbst zu achten, sich selbst zu bewahren. So entsteht ein Menschentyp, der sich selbst überlässt – oder vielmehr: sich selbst verlassen hat. Die Linie führt von mangelnder Selbstverantwortung über moralische Verwahrlosung bis hin zur Selbstverwahrlosung – nicht nur im sozialen, sondern im existenziellen Sinne.

Selbstdarstellung statt Selbstwert: Die Bühne ersetzt den Spiegel

In einer Gesellschaft, die vom Sichtbarsein lebt, ersetzt die Selbstdarstellung zunehmend den Selbstwert. Das Selbstbild wird kuratiert, manipuliert, optimiert – und dabei immer hohler. Aufmerksamkeit wird zur Währung, Anerkennung zur Ersatzform von Liebe, Reichweite zur Ersatzform von Beziehung.

Das Selbstbild wird kuratiert, manipuliert, optimiert
Das Selbstbild wird kuratiert, manipuliert, optimiert

Man wird gesehen, aber nicht erkannt. Man wird beachtet, aber nicht gewürdigt. Was bleibt, ist die Sehnsucht – nach echter Beachtung, nach wahrer Bindung, nach dem Gefühl, nicht nur etwas, sondern jemand zu sein. Doch an die Stelle authentischer Anerkennung tritt das Aufmerksamkeitserheischen, das permanente Inszenieren, das süchtig machende Spiel um Sichtbarkeit, Likes und digitale Zuwendung.

Die Ordnungslücke: Orientierungslosigkeit und die Sehnsucht nach Führung

In all dem liegt eine wachsende Orientierungslosigkeit. Der Mensch ohne Welt ist auch ein Mensch ohne Ordnung. Er lebt in einer fragmentierten Realität, in der nichts mehr verbindlich und alles möglich scheint – mit dem Ergebnis, dass kaum etwas mehr als bedeutungsvoll empfunden wird. Aus dieser inneren Leere erwächst eine tiefe, fast archaische Sehnsucht nach Struktur, nach Richtung, nach einem Oben und Unten, einem Vorn und Hinten. Der Wunsch nach Hierarchie, nach Führung, nach jemanden, der „weiß, wo’s langgeht“, gewinnt dort an Macht, wo das Individuum keine innere Ordnung mehr hat. Die Führergesellschaft ist nicht nur politisch, sondern auch psychologisch attraktiv geworden: Sie verspricht Entlastung. Sie suggeriert, dass jemand anderes die Last der Entscheidung, der Verantwortung, der Weltdeutung übernimmt.

Vom Wunsch nach Einordnung zur Bereitschaft zur Unterordnung

Was als Sehnsucht nach Orientierung beginnt, endet nicht selten in der Bereitschaft zur Unterwerfung. Wenn sich Menschen nicht mehr selbst führen können, lassen sie sich führen. Und wenn sie sich einordnen wollen, müssen sie sich unterordnen. Damit geht die Selbstverantwortung nicht nur verloren – sie wird abgegeben, abgelegt, weggeschoben. Fremdbestimmung wird zur Erleichterung: Entscheidungen werden getroffen, Richtungen vorgegeben, Komplexität reduziert. Diese Vereinfachung des Lebens wird als Wohltat erlebt – ein Phänomen, das Totalitarismen immer schon verstanden haben. Die Entlastung vom eigenen Denken, die Erleichterung der alltäglichen Selbstorganisation, das Versprechen von Ordnung im Chaos – all das macht autoritäre Systeme attraktiv für den innerlich entwurzelten Menschen. Es gilt die Befehlsgewalt von oben nach unten und die Gehorsamspflicht von unten nach oben. Es gilt der Führerbefehl.

Diese Vereinfachung des Lebens wird als Wohltat erlebt.
Diese Vereinfachung des Lebens wird als Wohltat erlebt.

Der Preis: Verlust des Selbst und der Freiheit

Doch der Preis für diese vermeintliche Erleichterung ist hoch: Es ist der Preis der Selbstaufgabe. Fremdbestimmung mag entlasten, aber sie entmündigt. Sie mag Ordnung bringen, aber sie tötet die Freiheit. Der Mensch, der seine Verantwortung abgibt, gibt auch sein Selbst ab. Er wird zum Objekt – zuerst der Führung, dann der Macht, schließlich des Systems. Und in dieser Objektwerdung verschwindet alles, was ihn einst als Mensch ausgezeichnet hat: Autonomie, Würde, Urteilskraft, Beziehungsfähigkeit.

Ein letzter Ausweg: Rückkehr zur Welt, Rückkehr zur Verantwortung

Was bleibt, ist die Frage nach dem Ausweg. Die Antwort liegt – so paradox es klingt – nicht im Rückzug, nicht in der weiteren Flucht vor Welt, sondern in der Rückkehr zur Welt. Der Mensch muss sich seiner Verantwortung wieder stellen – sich selbst und anderen gegenüber. Das bedeutet: Bindungen eingehen, Entscheidungen treffen, Urteile fällen, Werte vertreten. Es bedeutet, in einer unübersichtlichen Welt das Wagnis echter Beziehung und echter Verantwortung einzugehen. Nur so lässt sich der Kreislauf durchbrechen, in dem Vereinzelung, Oberflächlichkeit und Führersehnsucht sich gegenseitig verstärken.

Denn was der „Mensch ohne Welt“ letztlich sucht, ist nicht nur Ordnung, sondern Bedeutung. Und Bedeutung entsteht nicht durch Hierarchie, sondern durch Beziehung. Nicht durch Führung, sondern durch Verantwortung. Nicht durch Sichtbarkeit, sondern durch Achtung. Nicht durch den Verlust des Selbst, sondern durch dessen Wiedergewinnung – als Mensch in der Welt und für die Welt.

  • Inspiration: Lektüre: Janosch Schobin: Einsamkeit als gesellschaftliches Problem. Ein Überblick. In: POLITIKUM. Heft 2 / 2025, S. 4 ff.
  • Text: redaktionelle Überarbeitung: KI-unterstützt: Copilot, ChatGPT, Claude ai.
  • Bilder: KI-generiert: Copilot