Manchmal beginnt alles mit dem Gefühl, dass ein Raum zu klein geworden ist. Die Luft scheint dicker, nicht feindselig, aber abgestanden, als wäre sie schon zu oft geatmet worden. Menschen leben oft jahrelang in solchen Räumen, äußerlich weit, innerlich eng. Man arrangiert sich, man spricht nicht über das Unaussprechliche, man toleriert die Reibung zwischen innerem Druck und äußerem Frieden.

Und dann, eines Tages, gibt es diesen winzigen Riss. Vielleicht ist er kaum sichtbar, vielleicht entsteht er durch ein Wort, das jemand ausspricht, obwohl er weiß, dass es eigentlich nicht gesagt werden soll. Vielleicht entsteht er durch ein Unbehagen, das nicht mehr in die Schublade zurückwill.

Dieser Riss ist der Anfang jeder Grenzüberschreitung. Keine Heldentat, kein Sturm, sondern ein zartes Nein. Ein stummes: So kann es nicht bleiben, so kann ich nicht bleiben.

Wer je so einen Moment erlebt hat, weiß, dass Grenzgänger selten laut sind. Sie sind eher Menschen, die irgendwann leise aus dem alten Rahmen hinaustreten — und deren Schritt später Generationen verändert.

Überblick

Es handelt von der Notwendigkeit, Grenzen zu überschreiten und Tabus zu brechen — nicht aus Trotz, sondern aus Verantwortungsgefühl. Er zeigt, wie Individuen und Gesellschaften durch Grenzgänger wachsen, und wie psychologische Reifung und politischer Fortschritt untrennbar miteinander verwoben sind. John Irvings Roman Gottes Werk und Teufels Beitrag dient als literarischer Kompass: Er erzählt von Menschen, die sich dem Diktat der Konvention widersetzen, um menschlicher zu handeln als jene, die Regeln über Mitgefühl stellen.

Gottes Werk und Teufels Beitrag erzählt die Geschichte des Waisenjungen Homer Wells, der im abgelegenen St. Cloud’s Hospital aufwächst und dort vom idealistischen, aber tabubrechenden Arzt Dr. Wilbur Larch geprägt wird. Larch führt illegale Schwangerschaftsabbrüche durch, weil er das Leid der Frauen sieht und sich weigert, sie mit moralischen Appellen allein zu lassen. Homer wächst zwischen Fürsorge und moralischen Konflikten auf, verlässt das Waisenhaus und entdeckt in der Außenwelt eigene Werte, Wünsche und Zweifel. Der Roman zeigt, wie beide Männer auf sehr unterschiedliche Weise nach einer Haltung suchen, die dem Leben gerecht wird. Und er macht sichtbar, wie schwierig — und notwendig — es ist, Grenzen zu überschreiten, wenn Menschlichkeit auf dem Spiel steht.

Der Weg hierführt durch persönliche Innenräume und gesellschaftliche Außenräume, zeigt die Kraft der Perspektivwechsel und macht Mut zu jenen Schritten, die notwendig sind, wenn das Stehenbleiben dem Menschlichen schadet.

Worum es geht

Es geht um die stillen Wände, die wir um uns errichten — und darum, wer wir werden, wenn wir sie durchbrechen. Es geht um Gemeinschaften, die sich selbst lähmen, wenn sie ihre Tabus nicht hinterfragen. Es geht um das Individuum, das sich selbst verrät, wenn es eigene Bedürfnisse zu lange verschweigt. Und es geht um die Art von Mut, die sich nicht groß fühlt, sondern schlicht notwendig.

Grenzen im Inneren – Die psychologische Tiefe

Wenn wir vom Überschreiten sprechen, müssen wir zuerst von den unsichtbaren Begrenzungen sprechen, die in den Köpfen beginnen. Das Innere ist oft strenger als das Äußere. Gesellschaftliche Normen leben nicht nur auf Parlamentsfluren, sondern in Familiensätzen, Schulhöfen, Kirchbänken, Jugendzimmern, Wartezimmern von Psychotherapien.                                                                          Psychologische Grenzen entstehen aus der Sehnsucht nach Sicherheit. Der Mensch mag Gewissheiten wie Kinder ihre Schmusedecken – und er verteidigt sie, selbst wenn sie jucken. Deshalb halten wir an Rollen fest, die uns längst zu klein geworden sind. Wir glauben an Überzeugungen, die eigentlich nur alte Abwehrmechanismen sind. Wir hüten Tabus, obwohl sie uns längst behindern.

(Just another brick in the wall)

Die Entwicklungspsychologie sagt, dass jeder Mensch sich in Schichten entfaltet. Doch viele dieser Schichten bleiben unberührt, weil wir sie nicht betreten dürfen. Tabus wirken wie religiöse Sperrzonen: Man nähert sich ihnen mit verhaltenem Schritt, und irgendwann meidet man sie ganz.

Doch innere Entwicklung ist ohne Grenzgang unmöglich. Der Mensch braucht den Moment, in dem er sich selbst überrascht. In dem er etwas ausspricht, das er bisher nur gefühlt hat. In dem er ein Handlungsmuster verlässt, das nicht ihm gehört, sondern den Erwartungen derer, die ihn geprägt haben.

Grenzüberschreitung bedeutet in diesem Sinn, erwachsen zu werden — nicht im bürokratischen oder biologischen Sinn, sondern im psychischen: Man übernimmt die Verantwortung für das eigene Empfinden. Man stellt sich gegen das Schweigen der eigenen Biografie. Und man gewinnt eine Freiheit, die weder laut noch heroisch sein muss; sie ist vielmehr wie eine Tür, die plötzlich auffällt:
Ich könnte auch einen anderen Weg nehmen.

Grenzen im Außen – Die politische Tiefe

Wenn Individuen anfangen, innere Grenzen zu sprengen, geraten auch äußere ins Wanken. Gesellschaften sind nämlich kollektivierte Psychologien: Sie reagieren auf Normabweichungen wie Familien, die nicht über heikle Themen sprechen wollen. Wenn jemand das Verbotene ans Licht bringt, entstehen erst Abwehrbewegungen, dann Rechtfertigungen, dann Debatten — und irgendwann Fortschritte.

Politik ist im Kern nichts anderes als die große Bühne der Grenzfragen.

Wer darf mitreden?
Wer darf leben, wie er lebt?
Welche Themen sind erlaubt?
Welche Körper werden als wertvoll definiert?
Welche Wahrheiten darf man aussprechen?

Tabus sind immer politisch. Sie schützen die Machtverhältnisse, die von ihnen profitieren. Und sie stigmatisieren jene, deren Existenz die Ordnung irritiert.

Grenzgänger im politischen Sinn sind nicht zwangsläufig Menschen, die laut werden. Es sind vielmehr jene, die bestehende Definitionen von Normalität, Identität, Verhalten oder Moral nicht mehr akzeptieren. Menschen, die aus ihrer eigenen existenziellen Erfahrung heraus sagen: Die Welt muss größer werden, sonst gehen wir zugrunde.

Es ist kein Zufall, dass die großen Fortschritte – Abschaffung von Sklaverei, Frauenrechte, Arbeiterbewegungen, LGBTQ+-Emanzipation, Antipsychiatrie, Aufklärung über Gewalt, Missbrauch und Diskriminierung – immer durch Tabubrüche entstanden sind. Gesellschaften entwickeln sich nicht durch Harmonie, sondern durch Reibung, Irritation, Grenzgänge, die auf den ersten Blick wie Störungen wirken.

Politisch wie psychologisch gilt: Fortschritt ist eine Zumutung. Aber Stillstand ist eine viel größere.

John Irving als literarischer Wegweiser

In Gottes Werk und Teufels Beitrag zeigt Irving, wie komplex Grenzüberschreitung sein kann. Dr. Wilbur Larch handelt gegen Gesetze, religiöse Gebote und soziale Erwartungen. Aber er tut es aus Barmherzigkeit, nicht aus Trotz. Er ist eine Figur, die nicht zwischen richtig und falsch unterscheidet, sondern zwischen menschlich und unmenschlich.

Irving zeichnet keine Moral von der Stange. Er zeigt, dass der Preis für Tabubrüche hoch ist — aber der Preis für ihr Unterlassen höher. Larch ist kein Rebell um der Rebellion willen. Er handelt, weil die Welt ihm keine moralisch saubere Option lässt.

Sein Schützling, Homer Wells, ringt mit denselben Konflikten. Und dieses Ringen macht den Roman so universell: Jeder Mensch trifft irgendwann Entscheidungen, die zwischen Loyalität und Verantwortung stehen. Zwischen gesellschaftlicher Ordnung und persönlichem Gewissen. Zwischen „Gehorsam“ und „Menschlichkeit“.

Irving beschreibt das so, dass man versteht: Manche Tabus sind nicht gefährlich, weil sie gebrochen werden könnten — sondern weil sie ungebrochen bleiben.

Zum Mitnehmen

Grenzen sind nötig, aber manchmal werden sie zu eng. Tabus schützen, aber manchmal ersticken sie. Individuelle Entwicklung und gesellschaftlicher Fortschritt sind zwei Seiten derselben Bewegung: dem Schritt hinaus aus dem Alten, hinein in eine Möglichkeit.

Grenzüberschreitung heißt nicht Selbstverlust. Es heißt Selbstwerdung.
Tabubruch heißt nicht Zerstörung. Es heißt Verantwortung übernehmen für das, was wirklich menschlich ist.

Wer Grenzen überschreitet, tut es selten aus Leichtsinn. Meist aus Notwendigkeit. Aus Liebe. Aus Empathie. Aus dem Gefühl heraus, dass ein Leben ohne Veränderung kein Leben ist, sondern ein Zustand.

Wir brauchen Grenzgänger — in uns und um uns herum. Nicht weil sie alles besser wissen, sondern weil sie alles offener machen. Sie helfen uns, die Fenster zu öffnen, wenn die Luft alt geworden ist. Und sie erinnern uns daran, dass jeder Fortschritt damit beginnt, dass jemand den Mut hat zu sagen: So weit – und jetzt weiter.

  • Inspiration: Daniel Benedict: ‚Sind Sie der geworden, der Sie sein wollten, Herr Irving?‘, in: Main-Spitze v. 29.11.2025; WISSEN; S. 6.
  • Bildmaterial: KI-generiert. Microsoft Copilot.
  • Dieser Artikel wurde unter Verwendung mehrerer redaktioneller KI-Werkzeuge erstellt.

Über den Autor:

Der Autor ist geprüfter psychologischer Berater (vfp), Heilpraktiker für Psychotherapie, hat ein postgraduiertes Studium in Psychologie zum Ph.D. (philosophy doctor) absolviert und erfolgreich an der Fortbildung zur Qualifikation ‚Psychosomatische Grundversorgung‘ der Landesärztekammer Hessen teilgenommen.

Er schreibt u.a. über die Übergänge zwischen Nähe und Autonomie, Bindung und Freiheit. Seine Texte verbinden psychologische Tiefe mit dem Blick auf den Menschen, der beides ist: verletzlich und fähig zur Wandlung.