Manchmal entsteht das Leiden nicht draußen in der Welt, sondern drinnen, an jenem Ort, an dem Gedanken sich zu Szenen verweben und Befürchtungen Gestalt annehmen. Es ist, als säße man in einem leeren Theater, in dem der eigene Geist die Bühne erhellt und Stücke aufführt, die nie stattfinden müssen – und doch die Gefühle eines realen Dramas in uns auslösen. Viele Menschen kennen dieses innerliche Ziehen, dieses „Was wäre, wenn…?“, das stärker wirkt als jede tatsächliche Gefahr. Dieses innere Echo hat Macht: Es kann uns ermüden, verunsichern und uns glauben lassen, wir seien den Dingen ausgeliefert. Doch genau hier beginnt der Weg zu einer anderen Haltung – indem wir verstehen, was in uns geschieht, warum es entsteht, und wie wir wieder Raum für Licht und Wirklichkeit schaffen können.

Überblick
Der berühmte Satz „Wir leiden oft mehr in unserer Vorstellung als in der Wirklichkeit“ beschreibt ein weit verbreitetes inneres Muster: Das Gehirn erzeugt Sorgenfilme, die uns körperlich und seelisch genauso belasten können wie echte Ereignisse. Dieses Phänomen entsteht aus unserer biologischen Ausstattung, aus individuellen Prägungen, aus familiär weitergegebenen Erfahrungen und aus persönlichen Erlebnissen – bis hin zu Traumata.
Wenn die Vorstellung übermächtig wird, verändert sie unser Selbstbild, unsere Beziehungen und unsere Lebensqualität. Doch imaginäres Leiden ist veränderbar: Durch Realitätsprüfung, Körperregulation, Selbstmitgefühl, entlastende Gespräche und – wenn nötig – professionelle Begleitung. Der Weg aus diesem inneren Schatten ist möglich und beginnt in kleinen, achtsamen Schritten.
Worum es geht
Im Kern geht es um ein Paradox: Unser Verstand, der uns schützen soll, wird manchmal selbst zur Quelle des Schmerzes. Er baut Szenarien, die uns warnen wollen, doch sie können zu ständigen inneren Alarmen werden. Wir sprechen hier über die psychologischen Mechanismen dieses Prozesses, darüber, wie Herkunft, eigene Lebensgeschichte und innere Muster das Leiden verstärken können, und wie man erkennen lernt, wann Vorstellungskraft nützlich ist – und wann sie uns unmerklich gefangen hält.
Wenn die Vorstellung stärker schmerzt als die Wirklichkeit
Der Satz wirkt auf den ersten Blick einfach, doch in ihm liegt eine komplexe Wahrheit. Wir leiden oft mehr in unserer Vorstellung als in der Wirklichkeit. Dieser Gedanke lässt uns verstehen, dass unser Gehirn eine feine Antenne für mögliche Gefahren ist. Es arbeitet nicht für Glück, sondern für Überleben. Schon kleinste Impulse reichen, und im Inneren beginnen Zukunftsszenen zu flimmern:
Was könnte passieren? Was, wenn etwas schiefgeht? Wie schlimm könnte es werden
Diese Szenen sind nicht harmlos. Der Körper reagiert auf sie, als stünde man einem echten Problem gegenüber: Herzschlag, Anspannung, flacher Atem, innere Unruhe. Eine imaginierte Gefahr löst dieselben Mechanismen aus wie eine reale. Dadurch entsteht eine Art innerer Kreislauf, der sich selbst verstärkt: Die Vorstellung macht Angst – die Angst bestätigt die Vorstellung.
Was uns prägt
Nicht jeder Mensch neigt gleichermaßen zu solchen inneren Dramen, und das hat Gründe. Manche tragen eine feinere Sensibilität in sich, eine stärkere innere Beobachtung oder eine hohe Vorstellungskraft. Andere wurden früh darauf geprägt, dass Vorsicht Lebensnotwendigkeit ist – sei es durch strenge Erziehung, unsichere Umgebungen oder wiederholte Entmutigung.
Auch transgenerationale Einflüsse wirken mit. Viele Familien tragen unsichtbare Geschichten: Ängste, die aus Kriegs- oder Fluchterfahrungen stammen, Verlustmuster, traumatische Erlebnisse, die nie wirklich verarbeitet wurden. Solche „vererbten“ Grundspannungen können dazu führen, dass wir innere Alarmbereitschaft entwickeln, ohne zu wissen, woher sie kommt. In manchen Menschen lebt ein Echo weiter, das ihnen nicht gehört – und doch ihre innere Welt färbt.

Wenn Erfahrungen zu inneren Drehbüchern werden
Wer selbst Belastungen oder Traumata erlebt hat, weiß, wie mächtig die Vorstellungskraft werden kann. Traumatische Erfahrungen speichern sich nicht klar ab, sondern als körperliche Spuren, diffuse Bilder, plötzliche Gefühle. Die Psyche entwickelt dann eine Art Dauerwachsamkeit. Sie werden als Geister der Vergangenheit, als innere Dämonen wahrgenommen, die sich jederzeit und überall wieder melden können.
Nach einem Trauma kann schon ein Gedanke reichen, um die alten Muster zu aktivieren. Die Vorstellung beginnt, neue Gefahren zu „erfinden“, die alte reproduzieren. Das Leben wird enger, die innere Kulisse bedrohlicher, auch wenn im Außen nichts geschieht. Die Angst richtet sich nicht mehr nur auf Erlebtes, sondern auf alles, was theoretisch geschehen könnte. Man beginnt zu leiden – lange bevor irgendein Ereignis eintritt.
Wie dieses innere Leiden uns verändert
Wenn die Vorstellung dominiert, verengt sich unser Blick. Wir ziehen uns zurück, verlieren Mut, zweifeln an uns selbst. Entscheidungen werden schwer, Schlaf unruhig. Selbstbewusstsein scheint zu verrutschen wie Sand in einer losen Vase. Wir empfinden Lebensfreude gedämpft, manchmal kaum erreichbar. Die innere Welt wirkt kleiner, und gleichzeitig fühlt sie sich bedrängter an.
Dieses Leiden macht etwas mit unserer Beziehung zur Welt: Wir begegnen anderen vorsichtiger, ziehen uns schneller zurück, erwarten Ablehnung oder Missverständnisse. Und genau diese Haltung ruft im Umfeld Reaktionen hervor – manchmal Fürsorge, aber auch Irritation oder Abstand. So entsteht ein zirkulärer Prozess: Die innere Angst beeinflusst die Außenwelt, und die Reaktionen von außen verstärken die innere Angst.
Welche Zeichen man ernst nehmen sollte
Manchmal zeigt sich imaginäres Leiden offen: sorgenvoll kreisende Gedanken, Schlafprobleme, körperliche Anspannung, Entscheidungsangst. Anderes bleibt im Verborgenen: chronische Erschöpfung, innere Enge, diffuse Schuldgefühle, ein Gefühl des Getriebenseins. Viele Betroffene können nicht benennen, was sie quält – sie spüren nur, dass etwas in ihnen dauernd auf Habacht steht.
Diese verdeckten Signale verdienen Aufmerksamkeit, nicht Kritik. Sie sind keine Schwäche, sondern Hinweise, dass das innere System überlastet ist.

Was man selbst tun kann
Ein erster Schritt ist, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit zu unterscheiden.
Frag dich: Was weiß ich wirklich – und was erfindet mein Kopf?
Allein diese Frage kann das Licht im inneren Raum verändern.
Reguliere den Körper: langsamer Atem, bewusste Erdung, kleine Bewegungen. Der Körper ist oft schneller bereit zur Beruhigung als die Gedanken.
Sprich über das, was sich abspielt. Ein Mensch, der zuhört, wirkt manchmal wie ein Anker in stürmischen inneren Gewässern.
Und vor allem: Sei freundlich mit dir. Die Angst ist kein persönlicher Fehler, sondern ein Mechanismus, der dich schützen wollte – nur zu gut, zu früh, zu intensiv. Mit therapeutischer Hilfe kann man lernen, mit den Geistern der Vergangenheit zu leben, sie zu kontrollieren, sie in die Schranken zu verweisen und die Kontrolle und Herrschaft über das eigene Leben wiederzugewinnen.
Wann man unbedingt Hilfe suchen sollte
Wenn Ängste den Alltag beherrschen, wenn du dich innerlich verloren fühlst, wenn Panikattacken auftreten, wenn Schlaf massiv leidet, wenn du Beziehungen meidest, weil die Vorstellung zu stark ist, oder wenn sich Dunkelheit und Verzweiflung ausbreiten, dann verdient dein inneres System professionelle Unterstützung. Gerade in solchen Momenten bist du es wert, getragen zu werden, statt allein kämpfen zu müssen.
Zum Mitnehmen
Du bist nicht falsch, weil du leidest. Du bist ein Mensch mit einem empfindlichen inneren Radar, das manchmal zu stark sendet. Die Vorstellung kann schmerzen – aber sie ist formbar, veränderbar, beruhigbar. Wirklichkeit ist oft leichter, als wir denken. Und der Weg dorthin beginnt immer im eigenen Tempo: Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, mit dem Wissen, dass Heilung möglich ist, wenn man nicht mehr alles allein tragen muss.
- Anonyme Beratung 24 Stunden am Tag, kostenlos aus ganz Deutschland: Tel.: 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 oder www.telefonseelsorge.de oder Bei Lebensgefahr rufen Sie den Rettungsdienst (112) und in Gefahrensituationen die Polizei (110)
- Inspiration: Gespräche mit Hassan
- Bildmaterial: KI-generiert. Microsoft Copilot.
- Dieser Artikel wurde mit Unterstützung redaktioneller KI-Werkzeuge erstellt.
Über den Autor:
Der Autor ist geprüfter psychologischer Berater (vfp), Heilpraktiker für Psychotherapie, hat ein postgraduiertes Studium in Psychologie zum Ph.D. (philosophy doctor) absolviert und erfolgreich an der Fortbildung zur Qualifikation ‚Psychosomatische Grundversorgung‘ der Landesärztekammer Hessen teilgenommen.
Er schreibt u.a. über die Übergänge zwischen Nähe und Autonomie, Bindung und Freiheit. Seine Texte verbinden psychologische Tiefe mit dem Blick auf den Menschen, der beides ist: verletzlich und fähig zur Wandlung.