Der totale Fürsorge-, Vorsorge- und Versorgestaat

Eine überfällige Debatte

An einem grauen Novembermorgen steht ein Mann an der Bushaltestelle. Sechs Uhr früh, müde Augen, Arbeitsklamotten. Neben ihm lehnt jemand, der gerade vom Feiern kommt, erzählt lachend von der durchgemachten Nacht. „Ich? Arbeiten? Wozu denn, läuft doch.“ Der Mann schweigt, steigt in seinen Bus. Jeden Tag die gleiche Szene, in tausend Varianten, in tausend deutschen Städten. Und jeden Tag dieselbe Frage: Wie lange noch?

Worum es geht: Unser Sozialsystem steht vor dem Kollaps. Nicht wegen der Bedürftigen, die es schützen soll, sondern wegen einer schleichenden Mentalitätsverschiebung: Immer mehr Menschen betrachten staatliche Leistungen als selbstverständlichen Lebensunterhalt, während immer weniger bereit sind, dafür die Lasten zu tragen. Der folgende Text fordert eine radikale Umkehr – eine Rückbesinnung auf Eigenverantwortung nicht als neoliberale Ideologie, sondern als existenzielle Notwendigkeit für den Erhalt unserer Solidargemeinschaft. Es geht um die Frage: Müssen wir unsere Ansprüche ändern, damit das System überlebt?

Zusammenfassung: Das biblische Zitat „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ wurde von den Nazis missbraucht, enthält aber einen Kern, der heute neu diskutiert werden muss. Die rheinland-pfälzische Landesverfassung verankert explizit die Pflicht jedes Bürgers, nach seinen Kräften für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Doch in der Praxis hat sich eine Anspruchshaltung entwickelt, die das Sozialsystem an seine Grenzen bringt: Konsumpriorität statt Altersvorsorge, Leistungsverweigerung statt Arbeitsbereitschaft, maximierte Sozialleistungen statt temporäre Überbrückung. Angesichts demografischer Verwerfungen und explodierender Kosten braucht es eine 180-Grad-Wende: Eigenverantwortung muss wieder vor Versorgungsdenken stehen – nicht um Schwache zu bestrafen, sondern um das Netz stark genug zu halten für die wirklich Bedürftigen. Die Alternative ist der Systemkollaps, der alle trifft.

Ein biblisches Wort und seine Last

„Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ – kaum ein biblisches Zitat ist so belastet wie dieser Satz aus dem Zweiten Brief des Paulus an die Thessalonicher. Die Nationalsozialisten haben ihn missbraucht, pervertiert, zur Rechtfertigung von Zwangsarbeit und Vernichtung instrumentalisiert. Der zynische Spruch „Arbeit macht frei“ über den Toren von Konzentrationslagern steht in dieser menschenverachtenden Tradition. Und doch lohnt es sich, den ursprünglichen Kern dieses Satzes neu zu betrachten – nicht als Waffe gegen Schwache, sondern als Kompass für eine notwendige gesellschaftliche Kurskorrektur. Paulus formulierte damals keinen Vernichtungsbefehl, sondern einen Appell an die Eigenverantwortung innerhalb einer Gemeinschaft, in der einige Mitglieder ihre Arbeit aufgegeben hatten und anderen zur Last fielen. In einer Zeit, in der das deutsche Sozialsystem erkennbar an seine Grenzen stößt, verdient dieser Grundgedanke eine ehrliche, unideologische Auseinandersetzung.

Was die Verfassung sagt

Dass Eigenverantwortung kein neoliberaler Kampfbegriff, sondern ein verfassungsrechtlich verankerter Grundsatz ist, zeigt ein Blick in die Landesverfassung von Rheinland-Pfalz. Artikel 54 formuliert es unmissverständlich: „Jeder hat das Recht auf Arbeit. Er hat die Pflicht, durch Arbeit nach seinen Kräften seinen und seiner Familie Lebensunterhalt zu sichern.“ Und Artikel 53 ergänzt: „Jeder hat nach seinen Kräften zur Wohlfahrt des Volkes beizutragen.“ Hier wird deutlich, dass das Recht auf soziale Sicherung nicht isoliert steht, sondern eingebettet ist in ein System wechselseitiger Verantwortung. Die Verfassung spricht explizit von einer Pflicht zur Selbstversorgung – nicht aus Härte, sondern aus der Einsicht, dass nur ein System funktionieren kann, in dem Nehmen und Geben im Gleichgewicht stehen. Der deutsche Sozialstaat ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Er schützt vor existenzieller Not, ermöglicht Teilhabe und gibt Sicherheit. Niemand ernsthaftes will ihn abschaffen. Doch in Teilen der Gesellschaft hat sich eine Haltung entwickelt, die seine Grundfesten gefährdet.

Wenn das Netz zur Hängematte wird

Das Problem lässt sich an vielen Stellen beobachten: Sozialleistungen werden nicht mehr als temporäre Hilfe zur Selbsthilfe verstanden, sondern als dauerhafter Lebensunterhalt optimiert. Die Bereitschaft, auch unattraktive Arbeit anzunehmen oder Einschränkungen hinzunehmen, schwindet in manchen Milieus gegen Null. Gleichzeitig wird selbst bei knappen Mitteln der Konsum – das neueste Smartphone, Streaming-Abos, der Billigflug nach Mallorca – der privaten Altersvorsorge oder Weiterbildung vorgezogen. Es hat sich eine Mentalität breitgemacht, die nach Rechten fragt, aber Pflichten ausblendet. Das Sicherheitsnetz, das Menschen in schwierigen Lebenslagen auffangen soll, wird so zur Hängematte für eine Minderheit, die durchaus könnte, aber nicht will. Diese Entwicklung ist nicht nur ungerecht gegenüber denjenigen, die jeden Tag arbeiten gehen und das System finanzieren. Sie ist auch existenzgefährlich für den Sozialstaat selbst, denn die demografische und finanzielle Realität ist alarmierend: Das Rentensystem steht vor dem Kollaps durch die Alterung der Gesellschaft, die Pflegeversicherung ist strukturell unterfinanziert, die Krankenkassen erhöhen kontinuierlich die Beiträge, und die Schuldenlast kommender Generationen wächst exponentiell. Die unbequeme Wahrheit lautet: Ein System, in dem immer mehr Menschen Leistungen beziehen und immer weniger Menschen diese erwirtschaften, ist mathematisch nicht überlebensfähig.

Die 180-Grad-Wende

Was also muss sich ändern? Die geforderte Kurskorrektur bedeutet nicht die Abschaffung sozialer Sicherung, sondern eine grundlegende Neujustierung der Prioritäten – individuell wie gesellschaftlich. Der dritte Urlaub im Jahr ist kein Grundrecht, wenn die eigene Altersvorsorge fehlt. Luxuskonsum auf Pump ist verantwortungslos gegenüber sich selbst und der Solidargemeinschaft. Jeder Euro, der heute in private Vorsorge fließt, entlastet morgen die Allgemeinheit. Das ist keine Zumutung, sondern elementare Vernunft. Wer arbeitsfähig ist, trägt die moralische Verpflichtung, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Keine Arbeit ist unter der Würde eines Menschen, der andernfalls von der Allgemeinheit leben müsste. Die Ablehnung zumutbarer Arbeit ist ein Bruch des Gesellschaftsvertrags, den jeder von uns stillschweigend unterschrieben hat, wenn er in diesem Land lebt. Es geht um das Subsidiaritätsprinzip: Erst die eigenen Kräfte, dann die Familie, dann die Gemeinschaft, zuletzt der Staat. Der Sozialstaat muss Auffangnetz für echte Not sein, nicht Komfortzone für Bequemlichkeit.

Wen dieser Appell meint – und wen nicht

An dieser Stelle ist absolute Klarheit notwendig: Wenn Paulus schreibt „wer nicht arbeiten will“, dann ist das Schlüsselwort „will“. Es geht ausdrücklich nicht um Menschen mit Behinderungen, um Kranke und Pflegebedürftige, um Kinder und Hochbetagte, um Menschen in existenziellen Krisen. Es geht um diejenigen, die arbeiten könnten, aber nicht wollen – und stattdessen von der Gemeinschaft leben möchten, die sie selbst nicht mittragen. Dieser Unterschied ist fundamental. Jeder ernsthafte Sozialstaat muss die wirklich Bedürftigen schützen und versorgen. Aber er darf nicht zur Selbstbedienungsmentalität einladen. Die Würde der Arbeit ist mehr als eine Phrase. Arbeit ist Sinnstiftung – die Erfahrung, gebraucht zu werden. Sie ist Selbstwirksamkeit – die Gewissheit, sein Leben selbst zu gestalten. Sie ist Würde – die Unabhängigkeit von fremder Gnade. Und sie ist Solidarität – der konkrete Beitrag zum Gemeinwohl. Wer Menschen dauerhaft von Arbeit fernhält, beraubt sie dieser Dimensionen. Das gut gemeinte Sozialsystem wird so zur goldenen Falle, die zwar materielle Not lindert, aber persönliche Entwicklung verhindert.

Der notwendige Kulturwandel

Die geforderte Wende muss in den Köpfen beginnen. In der individuellen Haltung bedeutet das: Weg vom „Was steht mir zu?“ hin zum „Was kann ich beitragen?“ Weg von der Erwartungshaltung hin zur Gestaltungsverantwortung. Weg vom kurzfristigen Konsum hin zur langfristigen Vorsorge. In der gesellschaftlichen Kommunikation bedeutet es: Arbeit muss wieder als Wert anerkannt werden, nicht als notwendiges Übel. Eigenverantwortung darf nicht als „neoliberal“ diffamiert werden, wenn sie doch nur die Grundlage jeder funktionierenden Solidargemeinschaft ist. Und die Wahrheit über die Finanzierbarkeit unseres Systems muss endlich ausgesprochen werden, auch wenn sie unbequem ist. In der Politik bedeutet es: Leistung muss sich wieder deutlich mehr lohnen als Nichtleistung. Zumutbarkeitsregeln müssen konsequent durchgesetzt werden. Und Anreize zur privaten Vorsorge müssen massiv verstärkt werden. Das sind keine Forderungen nach einem Abbau des Sozialstaats, sondern Bedingungen für seinen Erhalt.

Eine notwendige Abgrenzung

Es ist unerlässlich, klarzustellen: Diese Argumentation hat nichts, aber auch gar nichts gemein mit der menschenverachtenden Nazi-Ideologie, die das biblische Zitat pervertierte. Der Unterschied ist fundamental: Wir sprechen von Arbeitsfähigen, nicht von allen Menschen. Wir fordern Eigenverantwortung, nicht Vernichtung. Wir wollen die Stärkung des Systems, nicht die Ausgrenzung der Schwachen. Wir betonen wechselseitige Pflichten, nicht einseitige Herrschaft. Der entscheidende Unterschied liegt in der Intention: Unser Appell dient dem Erhalt eines solidarischen Systems, während die Nazis das Zitat zur Zerstörung von Solidarität missbrauchten. Wer diese fundamentale Differenz nicht sieht oder bewusst verwischt, macht sich einer intellektuellen Unredlichkeit schuldig, die jede ehrliche Debatte unmöglich macht.

Eine Frage des Überlebens

Deutschland steht vor einer Weichenstellung. Entweder gelingt eine kulturelle Neuausrichtung hin zu mehr Eigenverantwortung und realistischer Selbsteinschätzung – oder das Sozialsystem, das wir alle bewahren wollen, wird unter seiner eigenen Last zusammenbrechen. Die geforderte Wende ist radikal, aber notwendig: Weniger Konsum heute für mehr Sicherheit morgen. Mehr Arbeitsbereitschaft für den Erhalt der Solidargemeinschaft. Weniger Anspruchsdenken für mehr Nachhaltigkeit des Systems. Das biblische Prinzip „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“ ist – richtig verstanden – kein Fluch, sondern eine Segnung. Es erinnert daran, dass echte Solidarität nur funktioniert, wenn jeder nach seinen Kräften beiträgt. Nur so bleibt das Netz stark genug, um die wirklich Hilfsbedürftigen zu tragen. Die Alternative ist keine: Ein System, das alle versorgen will, ohne von allen Beiträge zu fordern, wird am Ende niemanden mehr versorgen können. Das wäre die größte soziale Katastrophe – und sie wäre vermeidbar. Die Wahl liegt bei uns: Eigenverantwortung heute oder Systemkollaps morgen. Es ist Zeit für eine ehrliche Debatte, jenseits von Tabus und Denkverboten. Denn nur wer die Wahrheit ausspricht, kann Lösungen finden.

Zum Mitnehmen

Der Mann an der Bushaltestelle – er steht stellvertretend für Millionen. Für all jene, die Tag für Tag ihrer Arbeit nachgehen, Steuern zahlen, in die Sozialsysteme einzahlen und dabei zusehen, wie ihre Rente schrumpft, ihre Krankenkassenbeiträge steigen, ihre Kaufkraft sinkt. Sie fragen sich längst nicht mehr ob, sondern nur noch wann das System kippt. Die Antwort liegt nicht in Technokratie oder Sparprogrammen allein. Sie liegt in einer grundlegenden Haltungsänderung: Wir müssen wieder begreifen, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Dass ein Sozialsystem, das für alle da sein will, nur überleben kann, wenn alle für das System da sind. Dass Eigenverantwortung kein Egoismus ist, sondern die Voraussetzung für funktionierende Gemeinschaft. Der Sozialstaat ist keine Selbstbedienungstheke und keine Versicherung für Bequemlichkeit. Er ist ein kostbares Gut, erkämpft von Generationen, das nur dann seine Aufgabe erfüllen kann – die Schwachen zu schützen –, wenn die Starken nicht seine Substanz aufzehren. Wer heute Konsumverzicht übt und private Vorsorge betreibt, handelt nicht asozial, sondern zutiefst sozial. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, während andere für ihn zahlen, tut das Gegenteil. Diese Wahrheit auszusprechen ist nicht herzlos. Herzlos wäre es, zu schweigen und zuzusehen, wie ein System kollabiert, das am Ende die Schwächsten am härtesten treffen würde. Die 180-Grad-Wende ist kein Angriff auf den Sozialstaat, sondern seine letzte Rettung.

Inspiration: Predigt von Herrn Pfarrer Mulach in der katholischen Pfarrgemeinde Johannes XXIII in Rüsselsheim-Königstädten vom 15.11.2025.  Bildmaterial: KI-generiert: ChatGPT. Dieser Artikel wurde unter Verwendung mehrerer redaktioneller KI-Werkzeuge erstellt.

Über den Autor:

Der Autor ist geprüfter psychologischer Berater (vfp), Heilpraktiker für Psychotherapie, hat ein postgraduiertes Studium in Psychologie zum Ph.D. (philosophy doctor) absolviert und erfolgreich an der Fortbildung zur Qualifikation ‚Psychosomatische Grundversorgung‘ der Landesärztekammer Hessen teilgenommen.

Er schreibt u.a. über die Übergänge zwischen Nähe und Autonomie, Bindung und Freiheit. Seine Texte verbinden psychologische Tiefe mit dem Blick auf den Menschen, der beides ist: verletzlich und fähig zur Wandlung.