Worum es geht

Europa ist nicht nur ein Kontinent der Länder, sondern auch einer der Lebenskonzepte. Zwischen dem italienischen „dolce far niente“ und dem deutschen „furor teutonicus“ liegen Welten – oder zumindest Weltanschauungen. Der eine lebt leichtfüßig, der andere zielstrebig. Und beide glauben, dass ihre Art zu leben die richtige sei. Es geht darum, dem alten Missverständnis nachzuspüren, das zwischen Müßiggang und Pflichtbewusstsein pulsiert, und fragt: Muss man sich wirklich entscheiden? Oder ist in der Reibung womöglich Platz für Erkenntnis?

Ein kontinentales Missverständnis mit Aussicht auf Versöhnung

Es gibt Stereotype, die so alt sind, dass sie beinahe schon wahr geworden sind – durch Wiederholung, durch Literatur, durch Urlaubsbeobachtungen am Strand von Rimini oder in der deutschen Bahn kurz vor Abfahrt. Auf der einen Seite: das „dolce far niente“, das süße Nichtstun der Italiener, dieses sinnliche Verweilen zwischen einem kleinen Caffè, einem Sonnenstrahl auf der Piazza und einem nicht ganz erledigten Behördenformular. Auf der anderen: der „furor teutonicus“, der wütende Arbeitsdrang des germanischen Gemüts, das sich selbst nur dann als existent begreift, wenn es etwas tut, was auf einer To-do-Liste abgehakt werden kann – idealerweise noch vor dem Frühstück.

Es ist ein ungleiches Paar, beinahe wie Mastroianni und Loriot: der eine lebt in den Tag hinein, der andere lebt am Tag vorbei. Der Italiener fragt: „Warum hetzen?“ Der Deutsche: „Warum nicht längst?“ Und beide verstehen sich in etwa so gut wie ein Ferrari in einer 30er-Zone.

Das Missverständnis beginnt bei der Zeit

Für den Südländer ist Zeit etwas, das geschieht, nicht etwas, das man benutzt. Sie verfließt, tropft, verlockt – während sie im Norden getaktet, gemessen, besessen wird. Der deutsche Kalender ist ein Heiligtum, ein sakrales Dokument, das Lücken mit Schuld und freie Tage mit schlechtem Gewissen füllt. Der Italiener hingegen weiß: Ein leerer Tag ist ein Geschenk, keine Leerstelle.

Wie sagte schon Goethe, als er durch Italien reiste, „In Italien lernt man das süße Leben, das man vorher nur gemessen hat.“ Und wer Goethe zitiert, hat bekanntlich recht – jedenfalls in Deutschland.

Das Missverständnis beginnt bei der Zeit
Das Missverständnis beginnt bei der Zeit

Die Arbeit als Religion

Während in Rom ein verschobener Termin einfach nur verschoben ist (oder vergessen, oder nie existiert hat), ist er in Frankfurt ein kleiner Weltuntergang. Arbeit, das sei dem deutschen Herzen gesagt, ist kein bloßes Mittel zum Zweck – sie ist Zweck selbst. Ein Mensch ohne Beschäftigung ist verdächtig, ja beinahe schon moralisch minderwertig.

 Im italienischen Verständnis dagegen beginnt der Verfall nicht mit dem Müßiggang, sondern mit seiner Abschaffung. Was nicht heißt, dass dort keiner arbeitet – aber man macht es mit einer gewissen Lässigkeit, einem Schulterzucken, das sagen will: „Ja, ich tu was – aber ich lebe auch dabei.“

Und genau hier prallen die Welten aufeinander: Wo der Deutsche organisiert, plant und strebt, lebt der Italiener, flirtet und genießt. Und das oft mit mehr Erfolg, zumindest was Lebensfreude, Verdauung und Herzinfarktstatistiken betrifft.

Disziplin vs. Improvisation

Natürlich hat der furor teutonicus seine Verdienste. Ohne ihn gäbe es vermutlich weder das Auto mit dem berühmten Türschließgeräusch noch den perfekt sortierten Recyclinghof. Aber ebenso gäbe es ohne das dolce far niente keine Opern, keine langen Sommernächte in Neapel und vermutlich auch kein Espresso, der sich nicht wie Filterkaffee mit Burnout-Syndrom anfühlt.

Improvisation ist in Italien keine Notlösung, sondern ein kulturelles Ideal. Dort, wo der Deutsche auf ein Formular wartet, das noch gedruckt werden muss, hat der Italiener es bereits umgangen – charmant, unauffällig, vielleicht sogar mit einem kleinen Lied auf den Lippen.

Europa zwischen Wut und Wein

Das Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Mentalitäten ist in Europa nicht nur folkloristisch, sondern politisch brisant. Der deutsche Mahnfinger in Brüssel hebt sich gern, wenn es um Haushaltsdisziplin geht, während in Rom die Schultern heben: Ma sì, domani…

Hier das Streben nach Ordnung, dort das Streben nach Sinn. Hier die Angst vor dem Kontrollverlust, dort die Angst vor dem Kontrollzwang. In der Mitte: der EU-Haushalt, der – wie so vieles in Europa – versucht, deutsch zu rechnen und italienisch zu leben. Man ahnt: Das kann nicht glattgehen, aber es hat Stil.

Versöhnung? Vielleicht auf einer Sonnenliege
Versöhnung? Vielleicht auf einer Sonnenliege

Versöhnung? Vielleicht auf einer Sonnenliege

Und doch: Vielleicht muss man diese beiden Seelen nicht mehr länger gegeneinander ausspielen, sondern miteinander versöhnen. Vielleicht ist gerade der Kontrast heilsam. Der furor teutonicus braucht gelegentlich eine Pause, einen Spritzer Aperol und ein Lächeln, das nicht durch Pflicht, sondern durch Lebenslust motiviert ist. Und das dolce far niente braucht hin und wieder einen kleinen Anschub, einen Termin, der tatsächlich eingehalten wird, oder zumindest einen Kalender, in den man mit Bleistift etwas einträgt.

Thomas Mann schrieb einmal: „Der Deutsche liebt das Problem, der Italiener das Leben.“ Vielleicht liegt die Zukunft Europas in der Fähigkeit, beides zu lieben – das Problem und das Leben. Oder wenigstens ein bisschen mehr das Leben. Das Problem kommt ohnehin von allein.

Zum Mitnehmen

Vielleicht geht es am Ende gar nicht darum, recht zu haben – sondern darum, zusammen zu leben. Zwischen dem süßen Nichtstun und dem disziplinierten Streben liegt die Möglichkeit einer neuen Balance: eine Lebenskunst, die Ernst und Leichtigkeit nicht als Gegensätze, sondern als Ergänzungen sieht. Wenn wir lernen, zwischendurch zu pausieren, ohne uns zu schämen – und zugleich zu handeln, ohne uns zu verkrampfen – dann wird aus Europa mehr als eine politische Idee: ein gemeinsamer Raum für das Leben selbst.

  • Inspiration: Lektüre ‚Welt am Sonntag‘ v. 20.7.2025, S. 11-14.
  • Redaktionelle Textüberarbeitung: KI-unterstützt: ChatGPT, Copilot, DeepSeek
  • Bilder: KI-generiert: Copilot.