An alle, die Verantwortung tragen in Bildung, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft

Die Zeit der graduellen Anpassung ist vorbei. Wir stehen an einem historischen Wendepunkt, an dem die Summe unserer Krisen – ökologisch, sozial, technologisch, demokratisch – nicht länger mit den Werkzeugen der Vergangenheit bewältigt werden kann. Dieser Brief ist kein Hilferuf, sondern ein Weckruf. Er ist die Aufforderung, eine Haltung zu kultivieren, die wir dringender brauchen als je zuvor: die Vereinigung von Possibilität und Plausibilität, von radikalem Denken und praktischer Weisheit, von Vision und Verantwortung.

Wir haben ein Denkproblem. Unsere Institutionen, unsere Bildungssysteme, unsere Organisationen sind durchdrungen von dem, was man tabellarisches Bewusstsein nennen könnte – eine Weltsicht, die nur misst, was messbar ist, die Komplexität auf Kennzahlen reduziert, die optimiert statt transformiert. Das Excel-Denken kann rechnen, aber nicht träumen. Es kann Bestehendes verwalten, aber nicht Neues ermöglichen. Eng verwandt damit ist die Tyrannei der Verfahrenslogik: die fatale Illusion, dass für jedes Problem ein standardisiertes Protokoll existiert. Doch echte Transformation folgt keinem Verfahren. Sie entsteht im Zwischenraum, im Experiment, im produktiven Scheitern – dort, wo Unsicherheit nicht als Problem, sondern als Ermöglichungsraum begriffen wird.

Wir haben ein Bildungsproblem. Trotz aller Reformrhetorik erzieht unser Bildungssystem zur Anpassung, nicht zur Transformation. Es belohnt Wiedergabe statt Erzeugung, sanktioniert Fehler statt sie als Lernquellen zu begreifen, fragmentiert Wissen in isolierte Fächer statt Probleme transdisziplinär zu bearbeiten. Es kultiviert extrinsische Motivation – Lernen für Noten, für Abschlüsse, für Arbeitsmarktchancen – und tötet dabei systematisch die Neugier. Junge Menschen werden zu effizienten Funktionsträgern ausgebildet, die in stabilen Umgebungen operieren können. Angesichts fundamentaler Umbrüche sind sie hilflos. Wir brauchen eine Pädagogik, die Lernen als Selbsttransformation begreift, nicht als Wissensakkumulation. Die von echten Problemen ausgeht – Klimawandel, soziale Ungleichheit, digitale Transformation –, die keine eindeutigen Lösungen haben und nur transdisziplinär bearbeitbar sind. Die Projektlernen ins Zentrum stellt, in dem junge Menschen durch transformative Praxis transformatives Denken lernen.

Wir haben ein Haltungsproblem. Individuell manifestiert sich dies in der Fixierung auf Komfortzonen: jene psychischen Räume, in denen alles vertraut, vorhersehbar, kontrollierbar erscheint. Konsumdenken macht uns zu passiven Aneignern vorgefertigter Identitäten statt zu aktiven Gestaltern unseres Lebens. Nischenecken-Wohlfühldenken, verstärkt durch Algorithmen, lässt uns in Echokammern verharren, in denen wir nie mit dem wirklich Fremden, dem wirklich Neuen konfrontiert werden. Diese Haltung ist nicht böswillig – sie ist zutiefst menschlich. Aber sie ist transformationsunfähig. Sie züchtet genau jene Starrheit, die uns lähmt, wenn Wandel unvermeidlich wird.

Was wir brauchen, ist eine possibilistisch-plausible Haltung. Possibilität meint die Weigerung, das Gegebene als endgültig hinzunehmen, die Bereitschaft, radikal Neues zu denken, die Kultivierung produktiver Imagination. Plausibilität meint die Kunst, dieses Neue so zu artikulieren, dass es anschlussfähig wird, ohne seine transformative Kraft zu verlieren. Nur die Vereinigung beider ermöglicht echten Wandel. Ohne Possibilität bleiben wir in unzureichenden Lösungsräumen gefangen, wiederholen dieselben inadäquaten Antworten. Ohne Plausibilität bleibt das Neue folgenlos, eine schöne Idee ohne materielle Wirkung.

Diese Haltung erfordert konkrete Fähigkeiten: Ambiguitätstoleranz – die Fähigkeit, im Ungewissen zu navigieren, ohne in Lähmung zu verfallen. Kreativität als kognitive Tugend – die Verbindung scheinbar unverbundener Bereiche, die Öffnung neuer Möglichkeitsräume. Resilienz ohne Rigidität – die Fähigkeit, Rückschläge zu verkraften, ohne zynisch zu werden, Scheitern als Information zu begreifen, flexibel zu bleiben, ohne den Kompass zu verlieren. Dialogische Offenheit – die Bereitschaft, eigene Überzeugungen im Gespräch zu revidieren, in der Einsicht, dass Transformation nie solipsistisch erfolgt, sondern immer kollektiv.

Was wir brauchen, sind transformationsfähige Institutionen. Bestehende Strukturen sind auf Stabilität optimiert, nicht auf Wandel. Eine transformative Gesellschaft braucht Institutionen, die Experimentierbudgets einbauen – Ressourcen, die explizit für das Ungewisse reserviert sind. Die Fehlerkultur praktizieren – Scheitern als Lernquelle betrachten, nicht als Sanktionsgrund; die temporäre Strukturen zulassen – projektförmige Organisation statt ewiger Hierarchien; die Transdisziplinarität ermöglichen – Durchlässigkeit zwischen Bereichen statt Silodenken; die Partizipation ernst nehmen – Betroffene zu Beteiligten machen, nicht zu Verwalteten.

Was wir brauchen, sind imaginative Infrastrukturen: Räume und Praktiken, in denen kollektiv über mögliche Zukünfte nachgedacht wird – Zukunftswerkstätten, Reallabore, Generationendialoge. Orte, an denen nicht nur geplant, sondern imaginiert wird, an denen Alternativen nicht nur gedacht, sondern erprobt werden können. Das Fehlen solcher Infrastrukturen ist eine der Tragödien unserer Zeit. Politik degeneriert zur bloßen Verwaltung des Status quo. Demokratie wird auf rituelle Wahlakte reduziert. Der öffentliche Raum verödet.

Was wir brauchen, ist ein gestaltender Umgang mit Technologie. Technologischer Wandel wird oft deterministisch begriffen: Technologie entwickelt sich, wir passen uns an. Diese Haltung macht uns zu Objekten eines Prozesses, der als unausweichlich erscheint. Doch Technologie ist kein Schicksal, sondern ein Möglichkeitsraum. Die Frage ist nicht „Was ist technisch möglich?“, sondern „Welche Möglichkeiten wollen wir technologisch realisieren – und warum?“ Das erfordert Technikreflexion als Bildungsinhalt, demokratische Technikgestaltung, ethische Infrastrukturen und technologische Souveränität – die Fähigkeit, Technologie zu verstehen und anzupassen, nicht nur zu konsumieren.

Was wir vor allem brauchen, ist eine neue Haltung gegenüber jungen Menschen. Sie sind nicht das Problem, das gelöst werden muss. Sie sind nicht defizitäre Wesen, die wir mit Wissen auffüllen müssen. Sie sind die Trägerinnen und Träger des Transformativen – wenn wir ihnen Räume geben, in denen sie diese Kraft entwickeln können. Wenn wir aufhören, sie in bestehende Strukturen einzupassen, und beginnen, mit ihnen neue zu imaginieren und zu realisieren. Das bedeutet konkret: ernsthafte Verantwortung statt simulierter. Projekte mit realen Konsequenzen. Mentoring auf Augenhöhe statt hierarchischer Belehrung. Lernen in heterogenen Gruppen, in denen Konflikte als Ressourcen begriffen werden. Und die Bereitschaft, ihnen zuzutrauen, dass sie scheitern und daraus lernen können.

Der hier gemeinte Optimismus ist weder naiv noch blind. Er kennt die Klimakrise, die soziale Fragmentierung, die technologische Disruption, die geopolitische Instabilität, die Erosion demokratischer Kultur. Aber er weigert sich, diese Krisen als Urteile zu lesen, als Beweise der Unmöglichkeit von Veränderung. Er begreift sie als Aufforderungen. Was jetzt ist, muss nicht bleiben. Was bedroht, kann auch mobilisieren. Dieser Optimismus ist keine psychologische Disposition, sondern eine ethische Entscheidung: die Entscheidung, so zu handeln, als ob Veränderung möglich wäre – weil nur diese Haltung Veränderung überhaupt ermöglicht. Der Pessimist produziert seine eigene Bestätigung durch Untätigkeit. Der transformative Optimist schafft Möglichkeiten durch die Praxis der Möglichkeitsöffnung.

Hoffnung ist in diesem Verständnis nicht die Erwartung eines guten Ausgangs, sondern engagierte Praxis. Die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – egal wie es ausgeht. Diese Hoffnung wartet nicht auf Rettung. Sie gestaltet. Sie ist radikal im Denken und konstruktiv im Handeln. Sie verbindet Kritik mit Kreativität, Widerstand mit Aufbau, Negation mit Affirmation.

Die Dringlichkeit könnte nicht größer sein. Wir leben in einer Zeit multipler, sich überlagernder Krisen, die nicht mehr als einzelne, isolierte Probleme behandelt werden können. Business as usual ist keine Option. Graduelle Anpassung reicht nicht. Kleine Reformen, die das System im Kern unangetastet lassen, werden die Herausforderungen nicht bewältigen. Wir brauchen bewusste, gestaltete Transformation, nicht katastrophische, die uns aufgezwungen wird, wenn wir zu lange warten.

Die Zukunft ist nicht vorhersagbar – jeder, der etwas anderes behauptet, ist entweder naiv oder lügt. Aber sie ist gestaltbar. Und diese Unterscheidung ist entscheidend. Wir können nicht wissen, was kommen wird. Aber wir können beeinflussen, was kommen wird. Wir können Möglichkeitsräume öffnen oder verschließen. Wir können Pfade bahnen oder verbauen. Wir können Zukünfte wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen.

Dieser Brief ist eine Aufforderung zum Handeln – nicht irgendwann, sondern jetzt. An Lehrende: Werdet Entwicklungsbegleiter, nicht Wissensvermittler. Kultiviert Fehlerkultur statt Risikoaversion. Geht von echten Problemen aus, nicht von Lehrplänen. An Führungskräfte: Baut Experimentierbudgets ein. Lasst temporäre Strukturen zu. Ermöglicht Transdisziplinarität. Macht Betroffene zu Beteiligten. An Politikerinnen und Politiker: Schafft imaginative Infrastrukturen. Ermöglicht Reallabore. Demokratisiert Technikgestaltung. Investiert in transformative Bildung. An alle: Verlasst eure Komfortzonen. Kultiviert Ambiguitätstoleranz. Übt dialogische Offenheit. Handelt, als ob Veränderung möglich wäre.

Das Mögliche wartet nicht darauf, entdeckt zu werden. Es will erschaffen werden – von uns, jetzt, hier. Transformation ist kein Ereignis, das über uns hereinbricht, sondern eine Praxis, die wir kultivieren. In jedem Gespräch, das eine neue Perspektive öffnet. In jedem Projekt, das das Unmögliche versucht. In jeder Entscheidung, die den leichten Weg zugunsten des richtigen verschmäht. In jeder Begegnung, die uns selbst verändert.

Die Frage ist nicht, ob wir uns verändern werden. Die Frage ist, ob wir diese Veränderung gestalten – oder erleiden.

Inspiration: Lektüre ‚Deutschland denkt in Excel-Sheets‘, Interview mit Anders Indset in: Main-Spitze v. Freitag, 7. November 2025, S.3.

Dieser Artikel wurde unter Verwendung mehrerer redaktioneller KI-Werkzeuge erstellt.

Texte zum Thema Bandbrief

Über den Autor:

Der Autor ist geprüfter psychologischer Berater (vfp), Heilpraktiker für Psychotherapie, hat ein postgraduiertes Studium in Psychologie zum Ph.D. (philosophy doctor) absolviert und erfolgreich an der Fortbildung zur Qualifikation ‚Psychosomatische Grundversorgung‘ der Landesärztekammer Hessen teilgenommen.

Er schreibt u.a. über die Übergänge zwischen Nähe und Autonomie, Bindung und Freiheit. Seine Texte verbinden psychologische Tiefe mit dem Blick auf den Menschen, der beides ist: verletzlich und fähig zur Wandlung.