Das Gespräch, zusammenfasst, zwischen dem Klienten und dem Therapeuten.
Setting: Im Gesprächszimmer des Therapeuten. Der Mann, Anfang 80, sitzt mit leicht gekrümmten Rücken und etwas nach vorne gebeugt, im Sessel, dem Therapeuten gegenüber. Zwischen ihnen ein flacher Tisch mit einem kleinen Blumengesteck, zwei Gläser und zwei kleinen Sprudelflaschen. Der Therapeut hört aufmerksam zu.
Klient: Ich frag mich manchmal … ob ich überhaupt noch hier sein will. Also nicht gleich im Sinne von ‚ich bring mich um‘, so direkt nicht. Aber … dieses ganze Leben – es fühlt sich an, als wär’s vorbei. …. Nicht, weil ich krank bin oder so. Sondern…. weil sie weg ist. …. Seit sie tot ist …. Ist alles still geworden … still und leer. …. Ich frag mich, ob es nicht besser wär, zu gehen. Einfach zu gehen. Still und ohne viel Aufsehen.
Therapeut: Sie meinen, ob es nicht besser wäre, zu sterben?
Klient: Ja… oder ob ich einfach nur müde bin…. Manchmal frag‘ ich mich, warum ich das alles noch aus… diese Einsamkeit… die Erinnerungen. Das Aufwachen in einem Bett, das plötzlich doppelt so groß ist. Jeder Tag ist wie ein Tritt in den Magen. Und ich frag mich: Warum halt‘ ich das eigentlich aus? Warum trägt ein alter Mann wie ich weiter das, was zu schwer geworden ist?
Therapeut: Was hält dich denn noch oder dennoch hier?
Klient: Vielleicht… die Angst….nicht die Angst direkt vor dem Tod….aber vor dem, was danach kommt – oder nicht. Was, wenn da gar nichts ist? Oder… was, wenn sie nicht da ist? Ich hab‘ mein ganzes Leben mit ihr geteilt. Wenn ich jetzt geh… find‘ ich sie dann wieder? … Oder verlier‘ ich sie endgültig?
Therapeut: Diese Unsicherheit – das macht es Ihnen schwer, eine, ja auch endgültige Entscheidung zu treffen?
Klient: Ja. Es lähmt mich. Ich könnt‘ ja einfach – naja, aufhören zu essen. Oder die Tabletten – einfach mal ein paar zu viel. Nicht aus Wut. Nicht mal aus Verzweiflung. Einfach aus Müdigkeit. Aber dann kommt dieser Gedanke: Was, wenn ich dadurch was verpasse? Was, wenn das Sterben schlimmer ist als das Leben jetzt?
Therapeut: Und so bleiben Sie im Zwiespalt?
Klient: Ja. Ich denke, ich grüble zu viel. Und das Denken und das Grübeln … machen feige, wissen Sie? Früher hätt‘ ich gesagt: Ich leb‘, weil ich liebe. Heute sag‘ ich: Ich leb‘, weil ich zweifle, Angst hab‘.
(Pause)
Klient: Ich weiß, dass das Leben nicht wieder sein wird wie früher. Aber manchmal wünsch‘ ich mir, dass das Denken, das Grübeln aufhört. Vielleicht auch nur für einen Moment. Ruhe – nur für einen Moment.
Therapeut: Darf ich Ihnen eine Frage stellen?
Klient: (nickt): Gerne.
Therapeut: Wenn Sie nicht an den Tod denken – sondern ans Leben – gibt es da noch etwas, was Sie fühlen möchten? Etwas, wo Sie sagen würden: ‚Dafür lohnt es sich vielleicht noch ein bisschen zu bleiben?
Klient: (leise): Vielleicht… Der Geruch vom Wald nach dem Regen… wir sind da oft spazieren gegangen… oder das Lächeln meiner Enkelin… ein Lied, das sie früher gern gehört hat.
Therapeut: (lächelt): Vielleicht ist das nicht ‚Nichts‘. Vielleicht ist es doch ‚Etwas‘.
Klient: Vielleicht.
Es vergehen etliche Sitzungen, die zunächst kaum Fortschritte zeigen. Der Klient bleibt glaubwürdig in seiner Skepsis, dennoch allmählich innerlich tastend und suchend. Die Trauer bleibt, aber der Blick beginnt sich zu öffnen, insbesondere dann, wenn er von dem Zusammensein mit seiner Enkelin erzählt. Und einem besonderen Erlebnis wie in dieser Sitzung.
Therapeut: Schön, dass Sie sich wieder gemeldet haben.
Klient: Ich weiß gar nicht genau, warum. Aber irgendwas hat mich hergezogen.
Therapeut: Vielleicht der Teil von Ihnen, der bleiben will?
Klient: (zuckt mit den Schultern): Vielleicht. Manchmal denk‘ ich immer noch, dass ich am falschen Ort geblieben bin, als sie gegangen ist. Ich hätte mitgehen sollen. Nicht durch den Tod, nicht so. aber… seelisch. Ich fühl‘ mich, als wär‘ ich…stehengelassen worden in einem Bahnhof, in dem Zug nie wieder einfährt.
Therapeut: Und trotzdem sitzen Sie heute hier. Sie warten nicht nur. Sie sprechen.
Klient: Ja. Ich hab‘ letzte Woche was Komisches gemacht. Ich bin zu unserem Garten gefahren, hab‘ mich auf die Bank gesetzt, wo sie immer gesessen hat. Und ich hab‘ ihr vorgelesen, ein Gedicht. Ich weiß nicht einmal, warum. Aber es war, als würde ich sie… für einen Moment spüren.
Therapeut: Wie war das?
Klient: (atmet tief, mit Tränen in den Augen): Still. Nicht wie Trost. Aber wie… Verbundenheit. Für einen Moment war sie da und ich spürte sie sagen: ‚Ich bin weg, aber du darfst bleiben.‘
Therapeut: Hat sich das richtig angefühlt?
Klient: Es hat sich nicht falsch angefühlt. Und das war schon viel im Vergleich, wenn ich bisher an sie intensiv dachte.
Pause.
Klient: Wissen Sie, was mir manchmal hilft? wenn ich das Abendlich sehe – dieses weiche, goldene Licht – dann denk‘ ich: ‚Das hätte sie schön gefunden.‘ und in dem Moment seh‘ ich’s durch ihre Augen. Dann bin ich nicht mehr allein. Für einen Augenblick.
Therapeut: Das ist eine zärtliche Form der Erinnerung.
Klient: Ja, schon. Und ich glaube… vielleicht ist das der Grund, warum ich noch da bin. Nicht weil ich muss. Sondern weil ich… für sie weitersehen will und ihr davon erzählen will.
Pause
Therapeut: Was möchten Sie noch für sie sehen?
Klient: Den Frühling. Und vielleicht… vielleicht schreib‘ ich ihr noch ein paar Briefe, wie ich es am Anfang unserer Beziehung getan habe. Keine großen Worte. Nur kleine Dinge… was ich gesehen hab‘… was ich vermisse… was noch in mir lebt.
Therapeut: Vielleicht… ist das ein Anfang.
Klient: (nickt): Vielleicht.
In der Trauer des alten Mannes leuchtet plötzlich etwas auf – nicht Heilung, nicht Erlösung, sondern eine Form von leiser Bejahung: Nicht: Ich muss leben. Sondern: Ich darf noch etwas weitertragen… noch etwas für sie erleben.
Therapeut: Vielleicht suchen Sie einen Ort auf, der sie beide verbindet oder verband. Lassen Sie sich Zeit und tauchen ganz tief in das Gefühl ein, das Sie ergreift. Wenn Sie sich danach fühlen – aber nur dann – nehmen Sie in irgendeiner Form Abschied. Wenn Sie möchten, können Sie das Versprechen geben, immer dann wiederzukommen, wenn Sie das Bedürfnis verspüren. Es ist Ihr gemeinsamer Ort. Und wenn es einigermaßen gut verlaufen ist, schreiben Sie ihr einen Brief, in dem Sie schildern, was Sie dabei erfahren und wie Sie es empfunden haben.
Klient: Ich versuch’s… vielleicht. Ich melde mich wieder.
Es vergehen wieder einige Wochen. Dann meldet sich der Klient, ein Termin wird verabredet, zu dem er pünktlich erscheint.
Therapeut: Schön, Sie wiederzusehen.
Klient: Ja. Ich sagte ja, dass ich mich wieder melden werde. Hier bin ich.
Therapeut: Und wie geht’s?
Klient: Nicht gut, aber schon etwas besser.
Therapeut: Freut mich, zu hören.
Klient: Ich hab‘ das getan, den Ort aufsuchen, die Stille auszuhalten und anschließend den Brief zu schreiben. War nicht einfach. Sehr tränenreich. Tat aber gut. Ich darf Ihnen den Brief vorlesen?
Therapeut: Aber gerne doch.
Klient: Es ist im Café auf der Wilhelmstraße. Wir waren öfter zum Frühstück oder Brunch dort. Und ich habe mich erinnert, wie ich ihr immer Milch und Zucker zum Kaffee geholt habe. Und ich hab‘ geschrieben: Heute bestell‘ ich ihn genauso – nur für mich. Es tut mir nicht mehr weh, wenn ich dich hier nicht sehe. Nicht so wie früher. Jetzt ist da eher … ein Vakuum, das sich nicht mehr krampfhaft füllt und schmerzt. Ich hab‘ mir das Café lange angeschaut. Wenn ich da war, fragte ich mich immer, ob ich noch dableiben muss. Dann war’s mir egal. Und heute, da ich dir den Brief schreibe, habe ich mich zum ersten Mal gefragt, ob ich noch darf und was ich tun kann. Ich kann dir zuhören und dich noch lieben. Und Kaffee trinken, ohne dass mir die Tränen kommen und ich fliehen muss. Du bist nicht mehr da. Aber ich bin noch hier. Und das hab‘ ich heute zum ersten Mal nicht als Widerspruch empfunden. Schmerzhaft zwar, aber ohne Verbitterung und ohne Wut. Ich lebe noch. Nicht, weil ich muss. Sondern weil ich kann. In Liebe.
Therapeut: (sieht die Tränen in den Augen des Klienten): Es schmerzt, man spürt es. Ihr Blick geht nach wie vor in die Vergangenheit, aber Sie sind dabei, sich in der Gegenwart einzufinden und nach vorne zu schauen. Sie haben einen entscheidenden Schritt getan. Sie nehmen das Vergangene mit als Schatz der Erinnerung, was Ihnen niemand mehr nehmen kann und nehmen wird. Der Schmerz wird allmählich abnehmen und Schritt für Schritt kehren Sie in’s Leben zurück. Nicht, weil Sie müssen, sondern weil Sie es können und in absehbarer Zeit auch wieder wollen.